Epen wie die Werke Homers oder Anthologien wie die Bibel gehören zu den ältesten literarischen Überlieferungen. Umfangreiche Schriften dieser Art prägen seit Jahrtausenden unser Bild von der Welt und unsere Werte, unsere Maßstäbe zu denken. Manchen sind sie heilig, sei es als göttliche Botschaft oder von vergötterten Autoren, auch wenn die hinter den Texten längst nicht mehr greifbar, nicht zu verifizieren sind. Homers Helden oder die der Bibel prägen bis heute unsere Vorstellungen. Da sind die mutigen Kerls, die nichts fürchten, ihr Leben aufs Spiel setzen und häufig verlieren, immer natürlich im Dienst der guten Sache, für die es sich zu sterben lohnt.
Sie setzen bis in unsere Zeit Maßstäbe, an denen Autoren und Werke der Literatur gemessen werden. Man kann Homers „Ilias“ auch als das erste bekannte Beispiel einer militärischen Propaganda-Lüge begreifen, weil der Krieg gegen den politischen und wirtschaftlichen Rivalen Troja von den Griechen ja angeblich wegen der Befreiung einer Frau geführt wurde. Der amerikanische Außenminister Colin Powell war da weniger charmant, erfand er doch lediglich mobile Giftlabore und nie nachgewiesene Massenvernichtungswaffen. Und die Frage, ob Helena dem schmucken jungen Prinzen zuliebe ihren älteren Gatten vielleicht gar nicht so ungern verlassen hat, wäre unseren Latein- und Geschichtslehrern nie in den Sinn gekommen. Egal, Hauptsache es wurde – natürlich freiwillig und gern! – gestorben für Volk und Vaterland – bis hin zur Nazi-Propaganda wurde dieses Klischee immer wieder bemüht. Mein Vater hat es vor Stalingrad anders erlebt und seinen rechten Arm dort verloren.
Wenn Anne Weber jetzt also ihr „Heldinnen-Epos“ veröffentlicht, bürstet sie diese Tradition gleich mehrfach gegen den Strich, provoziert wütende Kritik. Teilweise mit einer Häme und Gehässigkeit, die sich eher psychologisch als germanistisch oder ästhetisch erklären lässt. Es macht schon Spaß, die Rezensionen in seriösen Feuilletons von Profis zu verfolgen oder die bei Amazon sowie recht rustikal bei Facebook von „normalen“ Lesern Urteile zur Kenntnis zu nehmen. Anne Weber präsentiert eine weibliche Heldin. Was in den Augen manchen Möchtegern-Helden oder Herren der Schöpfung offenbar allein schon ein Sakrileg zu sein scheint. Und dann hinterfragt sie deren Heldentum auch noch! Liefert keine simple Heroinnen-Malerei. Denn sie schildert ausgesprochen einfühlsam und sensibel eine konfliktreiche Biografie, deren Heldin – ja, allerdings! – immer wieder ihr Handeln und Verhalten reflektiert und über Jahre bitter für ihre Gradlinigkeit büßen musste.
Anne Beaumanoir „genannt Anette“ hat wirklich ein turbulentes Leben hinter sich und ist inzwischen knapp 100 Jahre alt. Während des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf ihre Heimat wurde sie im Widerstand als Mitglied der Résistance aktiv, rettete Bürger jüdischen Glaubens. Dafür wurde sie in Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Nach dem Kriegsende hätte sie als erfolgreiche Neurologin Karriere machen können und glücklich verheiratet allen Grund gehabt, mit Mann und Kindern angesichts ihrer Leistungen ihr Leben zu genießen. Aber es stört sie massiv, dass der von ihr eben noch als Held bewunderte Anführer des Widerstandes Charles de Gaulle und andere Kämpfer gegen die faschistische Unterdrückung nun ihrerseits als Kolonialherren und Besatzer in Algerien die Bevölkerung unterdrücken und beginnt, sich auch dort im Widerstand zu engagieren: gegen das Unrecht des Kolonialismus. Diesmal wird sie verraten, zu zehn Jahren Haft verurteilt und es gelingt ihr zu fliehen – allerdings muss sie Mann und Kinder zurücklassen.
Interessant ist jetzt, woran ihre Kritiker – oft mit Schaum vor dem Mund – Anstoß nehmen. Beispielsweise wird Anette indirekt als Rabenmutter verunglimpft, weil sie das Exil in Algerien der Haft in Frankreich vorzog. Klar, das stimmt. Allein, so viel intensiver hätte sie sich vom Gefängnis aus auch nicht um ihre Kinder kümmern können. Ihre saloppe Art der Schilderung wird Anne Weber zum Vorwurf gemacht. Man könnte auch sagen, angenehm sei, dass der Text eben nicht moralin-sauer daherkommt, mit erhobenem Zeigefinger, sondern trotz der zentralen ethischen Fragen, denen Annette sich immer wieder stellen muss, lesbar bleibt und ihre Konflikte aus ihrer Perspektive nacherleben lässt. Ganz wichtig scheint einigen der ablehnenden bis verdammenden Stimmen, dass Anne Weber zwar ein Epos ankündigt, damit scheinbar Anspruch auf Klassizismus erhebend, aber die klassisch bewährten Versformen immer wieder gern und lustvoll unterläuft. Viele von ihnen haben offenbar nicht verfolgt, dass sich Formen der Literatur seit Homer weiterentwickelt haben. Egal, worauf man sich jetzt berufen wollte, auf moderne lateinamerikanische Texte, auf Brechts Überlegungen zum Gestischen Rhythmus oder seinen Essay „Über reimlose Lyrik und mit unregelmäßigen Rhythmen“, auf Goethe oder Hölderlin, ein Autor muss nicht mehr in Homers Fasson schreiben. Wem das alles ebenfalls nicht behagt, der mag den Band gern beiseitelegen. Alle anderen, vermute ich, werden ihn mit Gewinn und Vergnügen lesen.
Anne Beaumanoir „genannt Anette“ mit der Urkunde als „Gerechte unter den Völkern“
Foto: Heike Huslage-Koch