Gül N. Dükan hat eine Lücke gefüllt

Der französische Soziologe und Philosoph Georges Bataille (1867-1962) gehört für mich persönlich zu den interessantesten Denkern seiner Epoche. Sein Werk ist vielfältig – beginnend bei erotischer Lyrik und Prosa, über ökonomische Schriften bis hin zu einer historischen Studie über Joan d‘Arc-Freund und Massenmörder Gilles de Rais. Er verkehrte im Umfeld der Surrealisten und war ein mit Walter Benjamin befreundet – und rettete das Manuskript von dessen Passagenwerk vor der Vernichtung durch die Nazis. Ein Thema, was sein ganzes Schaffen durchzieht, ist die Auseinandersetzung mit Religion und Religiösität – selbst in seinen erotischen Schriften, womit er sich einen wichtigen Platz in der modernen Religionstheorie erschrieben hat.

Gül N. Dükan erläutert diese Bedeutung gleich zu Beginn seiner Untersuchung „Innere Erfahrung und Ritual“. „Aus der Sicht der aktuellen Religionsforschung besteht sein besonderer Verdienst darin, dass er die Relevanz der religionsoziologischen Durkheim-Thesen für die Moderne in einem neuen Licht hervorhebt und die Funktion von Religion als gemeinschaftsstiftender Faktor im Spannungsfeld von profan und heilig mit Blick auf ursprüngliche und moderne Ordnungsprinzipien aufzeigt.“ (7). Vor diesem Hintergrund beginnt er – und damit füllt er auch eine große Lücke in der bisherigen Forschung zu Georges Bataille – die religionstheoretischen Ansätze von Georges Bataille herzuleiten und zu systematisieren. Nach diesem ersten Kapitel als Grundlage, widmet sich der Autor in kompetenter und sehr komprimierter Weise den Religionstheorien des von Bataille mitbegründeten Collège de Sociologie mit ihrem revolutionären Ansatz der Reeligionssoziologie, dem Konzept der „Inneren Erfahrung“ sowie der religiösen Bedeutung des Opfers. Letzteres Thema ist unter dem Aspekt, dass die französische Sprache zwei unterschiedliche Begriffe hierfür hat und damit auch über die Möglichkeit verfügt, ein religiöses Opfer von einem profanen zu unterscheiden. Auch hierbei zeigen sich Überschneidungen zur zeitgenösssichen Soziologie und Ethnologie – namentlich Marcel Mauss.

Die Arbeit von Dükan ist ein sehr interessanter und komprimierter Zugang. Sie setzt vom Leser viele Kenntnisse voraus. Das ist auch gut in derHinsicht, dass man sich nicht in Nebenschauplätzen verliert. Einzelne Aspekte wie die Verbindung von Erotik und Religion, die zwar angeschnitten werden, könnten weiter ausgebaut werden. Diese Verbindung beider Sphären kommt z.B. explizit in seiner Erzählung Madame Edwarda zum Tragen, wo die Prostituierte dem Erzähler wie eine Gotteserscheinung in der Rue Saint-Denis begegnet. Ein anderer Aspekt, den ich gerne mehr behandelt gesehen hätte, wäre die Frage nach dem Ringen mit der Religion und der an Nietzsches Dionysos-Vorstellung erinnernde Fokussierung auf die (religiöse) Ekstase ode rauch seine Verortung in der Tradition atheistischer Autoren wie Marquis de Sade oder Friedrich Nietzsche. Da es sich hier um eine auf 151 Seiten gekürzte Fassung seiner Dissertation handelt, kann es natürlich sein, dass im Originaltext solche Facetten umfangreicher behandelt werden. In der jetzigen komprimierten Form ist es aber auch ein sehr guter und prägnanter Zugang zur Thematik.

Maurice Schuhmann

Gül N. Dükan: Innere Erfahrung und Ritual. Georges Batailles Religionstheorie, transcript Bielefeld 2024, 151 S., ISBN: 978-3-8376-7296-1, Preis: 39 Euro.