Mitunter ergeben sich interessante Diskussionen auch über individuelle Reizthemen und führen zu Diskursen, die sich lohnen in ihrem Ergebnis aufgeschrieben zu werden. Wobei "Ergebnis" hier nur meinen kann – Sie werden es gleich selbst erkennen -, dass jene Quintessenz gemeint ist, die für mich gilt. In der Frage, um die es gehen soll, kann es ja gar kein Kompromissergebnis geben. Jeder darf seine Meinung behalten. Und ich kam zu einer stark differenzierten Positionsbestimmung über – ja, über mich und meine Einordnung in das Schränkchen mit den Literaturepochen.
Angelegentlich einer Diskussion über "Warten auf Ahab" kam es zu Fragen über bestimmte Stellen des Buches, die meinem
Gegenüber unklar waren und zur Frage wo ich denn, um es mit einem unschönen neudeutschen Wort zu sagen, zu "verorten" wäre. Ist Komposition und Stil "postmodern"? Ist er etwas anderes, eventuell neues? Liege ich richtig, mich etwas zuzuordnen, was ich neo-expressionistisch nenne. Aber fangen wir mit den Stellen an, die zu klären waren.
In einer Szene, die früh im Buch erscheint, bewegt sich die Figur der Marie durch den Prenzlauer Berg. Diese Szene hat, wenn auch sehr versteckt, klare Bezüge zu Tellkamps "Turm". Es sind die Türmer, also die, in Sinne ihrer Bürgerlichkeit (ich meine das ohne moralischen Impetus) "guten" Bürger, jene, die in der DDR noch zu den Verlierern der Geschichte gehörten, auch wenn gebraucht worden waren und gut dotierte Funktionen innehatten. Sie waren aber insofern marginalisiert, weil sie nicht mehr durch eine elitäre Stellung direkt auf den Staaten wirken konnten. Diese Bürger also haben es "schön gemacht", haben den Prenzlauer Berg, dieses Viertel von Widersetzlichkeit und voll mit proletarischer Geschichte, verbürgerlicht. Jene Stelle dort, die sich auf Lava und anderes bezieht, korrespondiert direkt mit einem Tellkamp-Zitat aus einem Interview. Die Wendung "Linker Hand legt niemand …" an dieser Stelle, bezeiht sich, doppelt indirekt, auf die Figur "Judith Schevola" in Tellkamps Roman, die allgemein mit Franziska Linkerhand, also Brigitte Reimann und natürlich auf den römischen Senator Scaevola.
Unklar war meinem Gegenüber auch, wohin er die implizierte Kritik u.a. an Foucault zu stecken hätte. Es sei ihm aufgefallen, dass dort zwar die Frage der "Mächte" benannt werden würde, aber in einer Ausschließlichkeit, die ihm eben als Kritik vorkäme. Da hat er nicht unrecht. Das Fehlen der Frage der "Herrschaft", das offenbar sichtbar wird, ist eben die Kritik. Man kann die Frage der Macht, um dies hier in der bedauerlichen Kürze eines solchen Beitrages zu sagen, doch nicht ohne die Frage der Herrschaft stellen, weil man dann die Ebene der Dialektik verlässt. Die "kleinen Mächte" sind in ihren Ausprägungen bedingt von der sie gebärenden Gesellschaftsform.
Dies – und mehr – brachte uns zu der Frage, ob es sich nicht um den Prototyp eine postmodernen Romans handeln würde, wenn man die Definition von Wilpert zugrunde läge. Ich halte diese Einschätzung für akzeptabel, akzeptiere sie jedoch nicht. Meiner Meinung nach sollte ich mich anderenorts verorten. Die urbane Ansiedlung des Romans, die politische Eindeutigkeit – bei allen individuellen Problematiken – jener Handlungen und inneren Monologe der Figur der Marie, bedeutet für mich, dass sie sich eben nicht als zerbrochenes Individuum in einer zerbrochenen Welt fühlt, sondern als an der nicht zerbrochenen Wirklichkeit leidende, widersetzliche Person. Das aber, so scheint es mir, hätte Bezüge zum Beispiel zu Döblins "Alexanderplatz" und der Person des Bieberkopfs. Dann aber wäre der Roman der Moderne zuzuordnen und nicht ihres angenommenen postalischen Nachfolgers. Andererseits, dieser Argumentation meines Gesprächspartners konnte ich mich nicht entziehen, hätte der Zerfall des Ichs, als der ja den Romanmonolog sprechenden Marie starke Bezüge zum Expressionismus, auch wenn er dort nicht wirklich angesiedelt werden könne, auch dann nicht, wenn man ihm die Silbe "Neo" zugesellte, weil ihm immer das Entscheidende dafür fehlen würde: nämlich die parataktischen Muster. Auch wenn solche Konstruktionen immer wieder im Roman vorkämen, überwiege doch eine hypotaktische Komposition auf einer angenommenen Sprachebene: Die Satzglieder würden der Sicht folgen, also monologisch das jeweils Erscheinende betreffen und nicht einfach nur nebeneinander stehen.
"Fabian", dieser, der Neuen Sachlichkeit zuzuordnende Roman Erich Kästner aber wäre ihm, der sich nun mit mir über mein Buch unterhielt, sofort in den Sinn gekommen. Vermutlich käme man keine Einordnung dessen, was das Buch SEI, sondern nur dessen, was das Buch beschriebe: Die zweite Moderne nämlich, also die heutige Zeit in einer Sprache die noch in der Tradition deutschsprachiger Erzählungen stünde und zugleich schon nicht mehr. Darauf konnten wir uns einigen. Wir tranken noch ein Glas vom guten Vino Verde und bliesen die Rauchwolken unserer Zigaretten in die wolkenlose Nacht über Berlin.