Der 2012 verstorbene französische Romancier Bernhard Thomas beschäftigte sich in den 60er Jahren Époque mit den (anarchistischen) Illegalisten der Belle Époque in Frankreich. Er publizierte sowohl über den « anarchistischen Dieb » Alexandre Marius Jacob als auch über die, wegen ihrer Banküberfälle bekannt gewordene Bonnot-Bande.
Seine biographisch-gehaltene Erzählung « Die vielen Leben des anarchistischen Diebes Alexandre Jacob » ist nun 45 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Frankreich auch ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht worden. Als Grundlage wurde hierfür die überarbeitete und ergänzte Ausgabe der Biographie von 1998 genommen. In Frankeich gilt diese Veröffentlichung neben der von Alain Sergent (= Pseudonoym von André Mahé) verfassten Biographie « Un anarchiste de la Belle Époque : Alexandre Jacob » (1950) als Standardwerk über Alexandre Marius Jacob.
Alexandre Marius Jacob, dessen Konterfei man noch vereinzelt bei politischer Street Art in Frankreichs finden kann, wurde 1879 in Marseille geboren Um 1900 wurde er Teil der illegalistischen Strömung des französischen Anarchismus. Mit dem erbeuteten Geld aus Einbrüchen unterstützte Jacob zeitgenössische anarchistische Zeitschriften – u.a. Sébastien Faures « Le Libertaire ». Er schrieb auch selber eine Anzahl von Artikeln, die in den letzten Jahren in Frankreich auch als Neuauflagen erschienen. Später arbeitete er im Pariser Nobelkaufhaus Printemps und starb 1954 in Reuilly. Seine Lebensgeschichte inspirierte auch den Autor Maurice Leblanc bei der Erschaffung seines Meisterdiebes « Arsène Lupin », der nach wie vor zur französischen Popkultur gehört. (Im Insel Verlag liegen einzelne Arsène Lupin-Romane in deutscher Sprache vor.)
Der Hauptstrang der Biographie behandelt die Gerichtsverhandlung gegen Alexandre Jacob im Jahr 1905, die ihn schlagartig berühmt machte. Ein paar Monate nach dem Verfahren erschien auch die erste Arsène Lupin-Geschichte. Mit einer gewissen Sympathie für seinen Protagonisten geht es um die Zeit Jacobs als Matrose, um seine glorreiche Zeit als Einbrecher, der es auf 150 Einbrüche und Diebstähle brachte, bis hin zu seiner Zeit im Gefängnis, wo aus dem Einbrecher ein Ausbrecher wurde. Er brachte es auf stolze 17 Ausbruchsversuche. Bernhard Thomas lässt dabei Zeitdokumente einfließen und fängt damit auch die Atmosphäre gut ein, in der sich Alexandre Jacob zu jenem anarchistischen « Robin Hood » entwickelte. Die letzten Jahre Jacobs, in denen er vermehrt an den gesundheitlichen Spätfolgen der Inhaftierungen leidet, werden nur noch knapp abgehandelt. Seine Episode im Kaufhaus Printemps vermisst man hingegen.
Alexandre Jacob ist als Protagonist der anarchistischen Bewegung der Belle Époque von Relevanz. Anhand seiner Biographie gelingt es Bernhard Thomas die Atmosphäre jener Epoche einzufangen und einen Einblick in jenes Milieu zu geben. Allerdings verlangt jene Biographie mit der häufigen Erwähnung von konkreten Adressen vom Lesenden auch gute Kenntnisse Frankreichs. Ein ausführlicher Apparat, der u.a. Informationen zu den erwähnten Personen aus seinem Umfeld gibt, im Anhang erleichtert zwar die Lektüre, aber gewisse Kenntnisse sind trotzdem von Nöten zum vollständigen Verständnis der Biographie. Hier wäre ein Vorwort der Übersetzer wünschenswert. Ein wichtiges Thema für Thomas ist weiterhin die von Leblanc nicht zugegebene Orientierung seiner Figur des Meistesdiebes Lupin an dem realexistierenden Jacob. An mehreren Stellen zeigt der Autor auf, inwieweit Jacob und sein Leben – u.a. abenteuerlichen Fluchten – für die Romangestalt Lupin Pate standen.
Für das Verständnis der Entwicklung des Anarchismus in Frankreich um 1900 ist es unumgänglich, sich mit Figuren wie Jacob und Bonnot zu beschäftigen. Vor diesem Hintergrund ist die Biographie wärmstens zu empfehlen. Generell wäre es an der Zeit, dass in deutscher Sprache eine Übersichtsdarstellung über den französischen Anarchismus in der Belle Époque erscheinen würde, da sich die dortige Entwicklung stark von der, im deutschsprachigen Raum unterschied.
Neben Bernhard Thomas’ Biographie ist im deutschsprachigen Raum noch die Broschüre « Alexandre Marius Jacob – Die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes » (Syndikat A) erhältlich.
Bernhard Thomas: Die vielen Leben des anarchistischen Diebes Alexandre Jacob, Verlag edition AV Lich 2015, ISBN: 9783868411324, 339 S., Preis: 18 €.