„Der Historiker Volker Reinhardt legt in dieser seriösen De-Sade-Biographie seit mehr als zwei Jahrzehnten das wahre Leben des südfranzösischen Adligen hinter den zahlreichen Mythen und Bildern frei“ heißt es regelrecht marktschreierisch auf dem Rückcover von Volker Reinhardts neuer Sade-Biographie „De Sade oder die Vermessung des Bösen“. Er selber nennt als Anspruch – und folgt damit ohne es direkt auszusprechen einer Forderung Simone de Beauvoirs (Soll man Sade verbrennen?) bezüglich der Sade-Rezeption: „Die Aufgabe des Historikers ist es jedoch nicht, moralisch über Menschen der Vergangenheit zu richten. Als ethisch denkendes und fühlendes Individuum muss es bedauern, dass diese Werte in der Vergangenheit so nicht galten. Als Wissenschaftler hat er allein darzustellen und zu erklären, wie und warum Menschen so handelten und so dachten. Wenn man das Leben und das Werk des Marquis betrachtet, gewinnt man aufschlussreiche Erkenntnisse über die Natur des Menschen und damit auch über die eigene Gegenwart“ (15f).
Diesen hohen Erwartungen folgt eine Enttäuschung. Gut 200 Jahre nach seinem Tod, ist trotz aller Verklärungen durch seine Gegner und durch seine Anhänger die Biographie Sades bekannt. Nach dem II. Weltkrieg sind eine Reihe von Biographien erschienen, die das Leben Sades ausgeleuchtet haben – vor allem die von Gilbert Lely (Das Leben des Marquis de Sade), Jean-Jacques Pauvert (Der göttliche Marquis) und Maurice Lever (Marquis de Sade), die alle mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegen.
Volker Reinhardt liefert keine großartigen neuen Erkenntnisse bezogen auf sein Leben – höchstens ein paar kleinere Spezifikationen, die dem deutschsprachigen Rezipienten bislang weitgehend unbekannt waren.
Ausgehend von der Familiengeschichte, d.h. die Anekdote von Petracas Muse Laure de Sade und die Konstruktion der in Volksliedern besungenen Brücke von Avignon durch einen seiner Vorfahren, beleuchtet er das Leben des Marquis um anschließend sehr grob die Rezeptionsgeschichte (Krafft-Ebing, Surrealismus, Weiss, Pasolini, Frankfurter Schule…).
In die Lebensgeschichte baut er eine Auseinander mit Sades Werk ein, das er psychologisch versucht zu deuten. So schreibt er u.a. über das Fragment „120 Tage von Sodom“: „Eine Erklärung dafür ist die Funktion des Textes als Selbsttherapie. Der Marquis malte sich Kerkerqualen aus, die sein Häftlingsdasein vergleichsweise erträglich erscheinen ließ“ (205). In Bezug auf das Werk unterläuft ihm auch an einer Stelle der Fehler, dass er das Buch und die Verfilmung verwechselt zu haben scheint. Ebenso ignoriert in seiner Lesart jenes Fragment gebliebenen Textes, dass es Sade um eine wissenschaftliche Darstellung aller erdenklichen menschlichen Perversionen ging, d.h. Sade als Vorläufer der Sexualwissenschaft entgeht seiner Lesart völlig. Auch di generelle häufig ignorierte Einleitung Sades zu jenem Roman, in der er eine Anklage der Aristokratie formuliert, bleibt von ihm unbeachtet.
Insgesamt ist seine Arbeit durch den Ansatz geprägt, Sade als „Menschenforscher“ zu verstehen. Bereits im Vorwort erläutert er: „Die Texte des Marquis de Sade zeigen den Menschen von seiner grauenhaftesten Seite“ (14). Dieser Zugang ist auch nicht sehr innovativ. So schrieb bereits Sades Adept Charles Baudelaire, dass man immer auf Sade zurückgreifen müsse, um den natürlichen Menschen zu verstehen. Das gewählte Bildmaterial ist ebenso ein alter Hut. Die meisten Illustrationen kennt man bereits aus anderen Publikationen über Sade.
Zwei Aspekte sind dennoch von Interesse:
Volker Reinhardt streut ein paar Marginalien in seinen Text, die so nicht unbedingt bekannt sind. Er erwähnt z.B. in Bezug auf Rosé Keller nicht nur ihr Dasein als Bettlerin, sondern auch ihre zuvor ausgeführte Berufstätigkeit. Das ist für den Sade-Enthusiasten sicherlich von Interesse, wenn auch den Kenner bereits bekannt.
In seiner Beurteilung der Marseiller Bonbonaffäre widerspricht er den gängigen Auffassungen. Im Regelfall wird davon ausgegangen, dass es sich bei den Katharinen-Bonbons, die Sade an die Prostituierten in Marseille verteilte, um ein völlig ungefährliches Experiment von ihm handelte. Reinhardt widerspricht dieser Absolution Sades. „Doch diese Generalabsolution ist voreingenommen und voreilig. Als Stammkunde einschlägiger Etablissements musste de Sade wissen, wie gefährlich das Aphrodisiakum war, wenn man es zu hoch dosierte. (…) So bleibt nur der Schluss, dass der Marquis mit seiner üblichen Gleichgültigkeit für das Leiden der anderen den gesundheitlichen Ruin und sogar den Tod seiner Lustobjekte in Kauf nahm.“ (121). Damit verlässt er aber auch gleichzeitig seine anvisierte Objektivität.
Kenner der Materie werden dieser Biographie allerdings nicht viel abgewinnen können. Es ist alles bereits bekannt – und reicht qualitativ an die gängigen Standardbiographien nicht an. Für Einsteiger ist die Biographie m.E. lesenswert, obwohl nach wie vor die oben erwähnten Biographien dem Einsteiger mehr Informationen bieten. Von einer Biographie anlässlich des 200. Todestages hätte man eindeutig mehr erwarten können….
Maurice Schuhmann
Volker Reinhardt: De Sade oder die Vermessung des Bösen. Eine Biographie, C. H. Beck München 2014, ISBN: 9783406665158, 464 S., Preis: 26,95 €.