Das Passiv
Im völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Krieg Russlands gegen die Ukraine findet auch ein Krieg der Sprache statt. Vordergründig geht es um Neuprägungen und Sprachverbote: Wer im Reiche Wladimir Putins das Wort „Krieg“ gebraucht, läuft Gefahr, hinter Gitter gebracht zu werden. Es heißt, politisch korrekt: „Militärische Spezialoperation“.
Den Kreml-Strategen und ihren Medienvasallen ist es darüber hinaus gelungen, die Veränderung der politischen Landschaft Europas seit dem Ende des Sowjetreiches sprachlich bis in den Westen zu manipulieren: Allgemein wird auch hierzulande von der „Osterweiterung“ der NATO gesprochen, was Russland dazu zwinge, sich gegen diese „ Bedrohung“ militärisch zur Wehr zu setzen. Deshalb sei das Riesenreich genötigt gewesen, den „Bruder“, also die Ukraine, zu besetzen und dabei zugleich die vermeintlichen dortigen Nazis zu beseitigen.
Das Gegenteil ist der Fall: Nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Jahren 1990/1991 entschieden die Völker der baltischen Staaten, Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Rumäniens und Bulgariens in freier Selbstbestimmung, einem Bündnis ihrer Wahl beizutreten. Dies konnte, nach den bitteren Erfahrungen mit der Sowjetherrschaft, nur die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft (NATO) sein. So geschah es. Und es spricht alles dafür, dass es den barbarischen Krieg in der Ukraine nie gegeben hätte, wäre die NATO-Vollversammlung 2007 dem Wunsche der Vereinigten Staaten von Nordamerika gefolgt und hätte die Ukraine aufgenommen. Stattdessen beschloss das Gremium, auf Drängen des französischen Präsidenten Sarkozy und der deutschen Kanzlerin Merkel, der Ukraine eine Abfuhr zu erteilen: einer der Fehler Merkels, die Angst vor dem Grollen des Herrn Putin hatte.
Auch die sprachlichen und gedanklichen Fehler Jürgen Habermas´ gehören in diesen Rahmen. Der Philosoph spricht sich zwar nicht gegen den Export auch schwerer NATO-Waffen an die Ukraine aus, meint aber, Deutschland und die anderen Verbündeten würden damit zum Kriegsteilnehmer. In Wahrheit hilft die NATO lediglich der Ukraine, ihr Territorium zu verteidigen, wie es das Völkerrecht vorsieht und billigt.
Weiter besteht er darauf, es sei bis heute seitens des Westens nicht klar definiert, was das Kriegsziel dieser Aktion der NATO sei: „Heiße es, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren, oder“ Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen?“ Erstens ist der Unterschied selbst für den Semantiker eher marginal, und zum zweiten ist das Ziel eindeutig: Russland muss seine Truppen hinter die russische Grenze zurückziehen und die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete Krim, Donezk und Lugansk an die Ukraine zurückgeben. Erst dann können sinnvollerweise Waffenstillstandsverhandlungen und Friedensgespräche mit dem Ziel der Sicherung der territorialen Integrität der Ukraine stattfinden.
Für Jürgen Habermas aber ist der Krieg vor allem ein sprachliches, genauer semantisch-pragmatisches, Problem: Für ihn entscheidend sind das „kommunikative Handeln“ und die „Diskursethik“: Im „herrschaftsfreien Diskurs“ ist letztlich, nach Habermas, jeder Konflikt zu lösen. Genau das aber ist das Problem, denn es setzt auf beiden Seiten die Bereitschaft voraus, über den eigenen Schatten zu springen und Kompromisse zu schließen. Die war zu Zeiten Willy Brandts und seiner Partner in Moskau-Breschnev und Kossygin-vorhanden, später noch stärker bei Michail Gorbatschov, der die wunderbare Vision vom „gemeinsamen Haus Europa“ entwarf.
Putin und seine Vasallen im Kreml und im Lande freilich lehnen genau das ab. Verhandlungen mit dem Westen, wie in Minsk 2014/15, sind ihnen ein Gräuel, genauer: eine westliche Schwäche. In ihrer Vorstellung gilt nur eines: Die russische Nation-seit Ivan dem Schrecklichen auf Barbarei und Unterdrückung anderer Völker und Religionen gegründet-muss wieder hergestellt werden, in alter Größe! Vorbilder sind Peter I., Katharina II.-beide zu Unrecht „die Großen“ genannt-, sodann Alexander III. und Stalin. Man lese Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 genau: Bereits dort hatte er seine imperialen Gelüste offenbart. Niemand im Westen glaubte ihm, auch nicht nach den Eroberungskriegen in Georgien 2008, in Syrien 2011, bei der völkerrechtswidrigen Krimeroberung 2014 und der Besetzung der Oblasti Donezk und Lugansk. Genauer: Man wollte nicht wahrhaben, was sich abzeichnete. Die SPD marschierte, im Gleichschritt mit der deutschen Exportindustrie, voran: „Wandel durch Handel“. Heute reibt man sich die Augen angesichts so vieler Traumtänzereien.
Doch, mag sich so mancher fragen: Was hat das alles mit dem „Passiv“ zu tun? In alten Grammatiken ist schließlich häufig zu lesen, das Passiv sei nichts als die Umkehrung des Aktivs: Der Mann wäscht den Wagen—Der Wagen wird gewaschen.
Die Wahrheit ist eine andere: Das Passiv ist hervorragend geeignet, den Handelnden, besser: den Täter oder gar den Verbrecher, nicht zu nennen oder bewusst zu verschweigen – aus taktischen oder grundsätzlichen Erwägungen. Die Aktivform hingegen zwingt den Sprecher dazu, das Agens-den Handelnden-beim Namen zu nennen. Genau deshalb heißt es im „Manifest für Frieden“ von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer: „Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine. Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert…Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden?“
Zwar wird später von der „von Russland brutal überfallenen ukrainischen Bevölkerung“ (Zwischenfrage: gibt es einen Überfall, der nicht brutal ist?) gesprochen, doch dann geht es, scheinbar neutral, im Text weiter: „Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten!“
Hier wird die Absicht deutlich: Zwischen Täter und Opfer, zwischen Aggressor und Verteidiger, wird nicht unterschieden: Alle beide, Russland und Ukraine,
Korrekt aktivisch und historisch angemessen müsste es heißen: Russland hat Soldaten und Zivilisten getötet, Kinder „verängstigt“ (Welch unerträgliche Lüge: In Wahrheit wurden Tausende Kinder ermordet und andere in Massen nach Russland verschleppt, um sie dort zu „russifizieren“!), Russland hat ein Volk auf Jahrzehnte traumatisiert. Nicht beide Kriegsgegner – Russland und die Ukraine- müssen Kompromisse schließen, sondern Russland muss seine Truppen hinter die russische Grenze zurückziehen, um Waffenstillstandsverhandlungen zu ermöglichen.
Genau deshalb ist der Wunsch nach baldigem Frieden, den seine Protagonistinnen wie eine Monstranz vor sich hertragen, verlogen- und keineswegs nur eine Irreführung der Anhänger. Die Autorinnen des Manifests haben obendrein die Chance verspielt, auf der Demonstration vom 25. Februar 2023 vor dem Brandenburger Tor ihren kapitalen Fehler einzuräumen, nämlich den Verbrecher Russland beim Namen zu nennen und ihn aufzufordern: „Herr Putin, ziehen Sie Ihre Truppen hinter die russische Grenze von 2014, also vor der Krimeroberung, und aus den Gebieten Donezk und Lugansk zurück! Beenden Sie diesen mörderischen Krieg!“
Frau Wagenknecht und ihre Mitstreiter haben genau diese zwei Sätze unterschlagen: Das Passiv als Strategie der Lüge.