Lassen Sie mich mit einem Zitat aus Tristan Shandy diese Rezension beginnen – und glauben Sie mir: Ich meine dieses Zitat ganz ernsthaft. Es ist an Sie gerichtet, auch wenn Sie kein Sir, sondern eine Lady sein mögen: „Ich ersuche Euch untertänigst, Sir, erweist diesem Buch die Ehre und nehmt es – (nicht unter Eure Protektion – es muss sich selbst protegieren, sondern) – mit Euch aufs Land.” (I, Widmungsrede).
Bevor ich mich mit dem Buch, dieser wirklich kolossalen Chose um die europäische Literatur, welches nur damit kokettiert allein die Kunst des europäischen Romans zu behandeln (und soviel mehr leistet), möchte ich etwas zu der Verlegerin sagen, die dieses Buch möglich gemacht hat. Claudia Gehrkes Konkursbuch Verlag hat sich einiges an Lorbeeren verdient. Die seit Jahren erscheinende Reihen „Mein Heimliches Auge“ haben einen nicht unerheblichen Beitrag zur sexuellen Freiheit geleistet, sie hoben das Niveau sexueller Literatur; und die Bildbände, die in dem Verlag erscheinen, die anderen Bücher auch – sie sind allesamt von guter Art. Das ist viel für einen Verlag in der heutigen Zeit. Dass der Verlag jetzt das Buch von Jürgen Wertheimer herausgebracht hat, diesen tausendseitigen Block über das Fundament der erzählenden Belletristik in Europa und darüber hinaus, war ein großer Wurf und, angesichts des Risikos, eine große Tat. Dafür hat Claudia Gehrke sich unseren Dank redlich verdient.
Denn dieses Buch ist all das nicht, was man bei einem solchen Buch, noch dazu einem, welches ein deutscher Hochschullehrer geschrieben hat, befürchten muss: dröge, langweilig, das Ganze im Einzelnen vergessend oder das Einzelne im Ganzen. Es ist ganz und gar untypisch für ein Sachbuch deutscher Provenienz. Und ein Sachbuch ist es ja – trotz des hohen Unterhaltungswertes. Jürgen Wertheimer hat es verstanden, durchgängig auf all den vielen Seiten, Spannung zu schaffen und den Spannungsbogen zu halten.
Als ich, heute morgen gegen Fünf – die Vögel sangen schon und ein trüber Tag warf ein erstes trübes Licht über Berlin – das Buch aus der Hand legte, nachdem ich es im Stück gelesen hatte, da fragte ich mich, ob ich die Werke auch gewählt hätte, die Wertheimer wählt. Vermutlich nicht. Und schon beim Lesen ertappte ich mich derweil, eine eigene Liste neben die seine zu legen. Als ich aber die letzte Seite umgeschlagen hatte, hatte ich keine andere Möglichkeit, als zuzugeben: Jürgen Wertheimers Auswahl war richtig, ich hätte daneben gelegen. Dabei begründet er seine Palette – dankenswerter Weise – kaum. Nein, die Richtigkeit seiner Wahl ergibt sich dramaturgisch, sozusagen theatralisch: Sie ist wie die Wahl, die ein Theaterautor treffen muss, um die Figuren auftreten zu lassen. Keine zu viel, keine zu wenig – um das Ziel des Stücks, also das Ziel des Buches zu erreichen. Und was uns der Professor für Komparatistik und Germanistik an der Universität zu Tübingen auf seiner Bühne zeigt, ist in der Tat großes Theater.
Mit großem Enthusiasmus schildert er uns die Fundamente, auf denen der moderne europäische, und mit ihm der amerikanische (both sides of the Panama Canal) Roman, ruht. Und der Spaß überträgt sich. Mit Cervantes und dem Don Quijote beginnt das Buch, und schon da kann man nicht aufhören zu lesen. Und wie entzückt war ich 140 Seiten später, nach dem ich mich über Sterne und seinen Tristram Shandy, über Voltaire und Goethe, über Jane Austen und Honoré de Balzac, aber auch über Manzoni, gefreut hatte und entzückt war, Gottfried Keller erwähnt zu finden, dessen Grüner Heinrich in der Tat ein ebenso großes, wie wichtiges Buch ist. Und die Freude vervielfachte sich, als ich Hermann Broch fand, diesen ganz zu unrecht aus dem Fokus geratenen deutschen Schriftsteller. Auch Italo Calvino vergisst Wertheimer nicht. Und diese Drei zu erwähnen, wäre schon Grund genug für eine ordentliche Entzückung. Aber auch bei den Schilderungen der im kollektiven Gedächtnis gebliebenen Schriftsteller, von Dickens bis Kafka, von Gogol bis Bachmann, schafft es Wertheimer mehr zu transportieren, als nur Information. Vielleicht sollte ich dieses spannende, so wunderbar sprachgewaltige und unterhaltsame Buch (für mich) aus dem Bereich des Sachbuchs in das der Belletristik verschieben. Denn es ist ja – kein Zweifel daran! – schöngeistig.
Ich bin, Sie merken es, ganz aus dem Häuschen. Gute Literatur hat es verdient, dass man nachgerade vor die Tür geht. Der Kollege Walter Wagner hat auf der empfehlenswerten Site literaturkritik.de geschrieben: „Wahrlich, ergötzlicher kann Literaturwissenschaft kaum sein!“. Der Mann hat recht. Aber, das muss unbedingt hinzugefügt werden: Niemals habe ich einen Ausschnitt, mehr ist ja gar nicht leistbar, gelesen, der so exorbitant richtig gewählt war. Wertheimer schafft es, meine eigene Kontierung von Schriftsteller und Werken gänzlich durcheinanderzubringen. Hätte ich es für möglich gehalten, dass nicht Zolas Germinal als das Buch für mich gelten könnte, welches in besonderem Maße diesem Schriftsteller zur Ehre gereicht? Wertheimer hat mich mit der Nase darauf gestoßen: Es ist vielleicht doch eher Thérèse Raquin. Und immer war mir Manns „Joseph und seine Brüder“ näher als der „Zauberberg“. Aber ich kann schlechterdings der Sichtweise Wertheimers nicht widersprechen. Das eine ist der persönliche Gusto, die Façon, nach der man leseselig wird, das andere ist das Wesen des Buches im Konzert der Romane und seine Rolle in der Komposition des europäischen Romans.
Wertheimer bleibt nicht in Europa. Auch das ist ein Verdienst, er bezieht Márquez und mit ihm all die anderen Schriftsteller mit ein, die sich in ihrem Schaffen auf die europäische Literatur beziehen. Er schafft damit einen, in diesem Kontext ausreichenden, Blick auf die Internationalität von Literatur. Es sei ihm ans Herz gelegt, in einem weiteren Buch diesen Blick auszuweiten. Vielleicht auch in Hinblick auf die Literatur Indiens, Chinas, Persiens und des arabischen Raums.
Packen Sie sich also dieses Buch ein, wenn Sie in den Urlaub fahren. Sie erhalten nicht nur eine kurzweilige Lektüre über Literatur. Nein, durch die vielen Zitate, durch die Spannung, mit der über die Werke gesprochen wird, erhalten Sie gleich einen ganzen Handkarren an Belletristik. Gehen Sie los, besuchen Sie ihren local dealer, und erwerben Sie das Buch – es hat Suchtpotential.
Behandelt werden: Cervantes, Sterne, Voltaire, Goethe, Austen, Manzoni, Balzac, Keller, Dickens, Gogol, Fontane, Zola, Dostojewski, Raabe, Proust, Joyce, Kafka, Mann, Grass, Marquez, Calvino und Bachmann. Viele Zitate, wunderbare Abschweifungen, und immer der Blick vom Gipfel ins Tal.
Unbedingt empfehlenswert.
Don Quijotes Erben – Die Kunst des europäischen Romans, Jürgen Wertheimer, Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, ISBN 978-3-88769-357-2, € 19,90