Er hätte, die Sonne brach fast gewalttätig durch die Fenster seines Wohnzimmers und Staubkörnchen tanzten in der sich erwärmenden Luft als wären es tausende winziger Elfen, jetzt lieber Sunshine Reggae gehört oder etwas von den Beach Boys, aber die Rolle, er wollte nicht aus der Rolle fallen und suchte auf dem Laptop nach Alban Berg, wählte das Violinkonzert, wenigsten da schien ihm ein Kompromiss möglich zu sein, auch wenn er Lulu liebte, schon seit seiner Jugend in den Achtzigern, als ihn das Bild eigentümlich berührt hatte, mit dem das Deutsche Schauspielhaus das Stück bewarb: die nackte Scham einer Frau und davor ein kleiner, zwergenhafter, dicker Mann, mönchisch in der Erscheinung – da war er immer der Mann gewesen, wenn er sich zu Hause nach der Schule befriedigt hatte, der kleine Mann vor der schönen Scham, ja geradezu geschmeckt hatte er sie, diese prachtvollen Haare auf dem prachtvollen Venushügel, und sich gedacht, das da in Hamburg alle Frauen so wären, so schön, mit diesen strammen Oberschenkeln, den muskulösen, mit solcher Scham und solcher Lust darauf, die Männer zu erniedrigen, daran erinnerte er sich nun, als er die Staubelfen tanzen sah in der Sonne, wie damals in der mütterlichen Wohnung im südlicher gelegenen Heimatort, der Wohnung in der, trotz mangelndem Reichtums, die Attribute der Familiengeschichte ein schweres, fast untragbares Gewicht auf ihn legten und seine Mutter ein zusätzliches Gewicht war, mit Dünkel und Duckmäusertum, mit dieser Attitüde des Wirsindjawer und der gleichzeitigen ängstlichen Rücknahme des Wohlgeborenen, ständig brannte da Licht unterm Scheffel, und er, das Kind, der Junge, wusste gar nicht wohin er sollte mit sich in der Gesellschaft; daran lag’s wohl auch, hirnte er sich nun zusammen, dass er so eigentümlich geworden war, ja, er war ein großer Maler geworden, ein Künstler, ein Stilist, einer allerdings, der manchmal, das gab er sich zu, mehr auf die Form zu geben bereit war, als auf den Inhalt, der mit sich selbst kokettierte, sich gleichsam selbst abbildete und sein Götzenbild dann, also das Gemälde eines Malers, gemalt von einem Maler, welches einen Maler zeigt, der einen Maler malt, wie eine Monstranz vor sich her trägt, ja, er wusste das, und einige wenige andere auch, die meisten aber, hoffte er, sähen das Bild als Wirklichkeit, seine Wahrheit also wirkend, wirklich, und nicht ihn, den Mann, der immer noch ein Junge war in der mütterlichen Wohnung, zwischen den Reminiszenzen gefangen, bedrückt von all dem Wissen um die Geschichte der Familie, zur Ordnung gerufen, herausgefallen aus allem, aus Schule und Freundschaft, abgesondert und dadurch getrieben zur Absonderlichkeit, also dem sich Abscheiden durch eigenes Handeln, und nicht einmal jetzt, allein an einem Frühjahrsmorgen in Berlin, in der schönen alten Wohnung, in die die Sonne kraftvoll, aggressiv fast, hineinschien, konnte er sich von den Verpuppungen befreien, die er sich kunstvoll selbst um sich geschaffen hatte. Er hätte jetzt gerne Sunshine Reggae gehört oder etwas von den Beach Boys.
About The Author
Leander Sukov
Leander Sukov ist Schriftsteller und Publizist. Er ist der Chefredakteur von "Kultur und Politik". Sukov ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und war dort von 2019 bis 2021 als Vizepräsident für "Writers in Exile" zuständig. Er gehörte von Mai bis Oktober 2022 dem Interimsvorstand als Schatzmeister an. Als stellv. Bundesvorsitzender des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist für den Kontakt zu politischen Stellen und für "Worte gegen Rechts" zuständig. Er ist Netzaktivist seit es das Internet gibt und war davor im Bereich der DFÜ auf den sog. Brettern unterwegs. Anfang der Achtziger war er in der deutschen Datenverarbeitungsschule engagiert, deren Schirmherr Konrad Zuse war. Sukov ist Mitglied der SPD. Er ist Mitglied von ver.di und im Bezirksvorstand Würzburg-Aschaffenburg des Fachbereiches 8. Er ist Generalsekretär der Louise Aston Gesellschaft.
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