Jörg Sundermeier sagt im Sonntagsgespräch des Buchmarktes: „Die kleineren Verlage, die sich ja oft an die komplizierteren Texte oder Editionen herantrauen, werden tatsächlich weniger besprochen, oder aber sie werden für ihr Kleinsein gelobt und für die Ausstattung der Bücher, ganz so, wie Oma ein Kind tätschelt, wenn es ein Gedicht gut aufgesagt hat, aber mit Kritik hat das nichts zu tun.“
Sundermeier trifft den vernagelten Kritiker auf den Kopf. Aber eigentlich ist’s schlimmer noch: Es gibt kaum noch anständige Literaturkritik. Anständig kommt von Anstand und Anstand meint — auch — die innere moralische Haltung. Hier wäre das die innere Haltung zur Literatur. Eine moralische Haltung sollte diese Haltung sein, die nicht Freund noch Feind kennt, sondern nur das eigene Wissen als Grundlage und das eigene Bewertungs- und Wertesystem als kriterienbildende und urteilende Instanz. Literaturkritik ist, wenn sie anständig ist, unbestechlich. Sie macht aus schlechten Büchern keine guten, aus hingeschluderten Mittelalterromanen keine benamten Rosen und aus dem ständigen Leiden charakterloser Werther keine literarischen Ausflüsse neuer Goethes. Doch diese Art von Literaturkritik ist selten und war es auch immer. Das ist also ein hergebrachtes Dilemma: Es gibt immer mehr gute Literatur, als die paar guten Kritiker lesen können, die es hat. Und die anderen können nicht mal lesen, jedenfalls nicht im literarischen Sinne. Zum Kritiker gehört, will er gut sein, aber nicht nur Wissen um und über die Literatur, sondern ein umfassendes Allgemeinwissen. Er muss ja verstehen können, was er liest, er muss einen Begriff haben von den Dingen, die ihm in der fiktiven Welt der Literatur begegnen. Auch daran hapert es.
Am Schlimmsten aber ist, dass die Verdichtung des Zeitschriftenmarktes uns vieler täglicher Seiten eigenständiger Feuilletons beraubt hat. Der Platz ist weniger geworden. Zeitschriften sind verstorben im kapitalistischen Wettbewerb, andere haben fusioniert und werden von Zentralreaktionen beliefert.
Auf keinem Platz rezensieren Menschen, die keine Kritik erzeugen können (und meist noch weniger vertragen), Bücher, die es nicht wert sind, beurteilt zu werden, die aber hohe Verkaufszahlen aufweisen. Ein Land dessen Feuilletons sich tatsächlich über Wochen abgearbeitet hat an Fifty Shades of Grey, aber große literarische Leistungen, wie die Herausgabe der Mühsam-Tagebücher durch den Verbrecherverlag kaum gewürdigt, ist ein armes Land.