„Die Absicht dieses Buches war anhand einer Theorie der vier menschlichen Vermögen in die Vorstellung der differenzierten Gesellschaft einzuführen“ (567) beschreibt Thomas Kilian im Fazit seiner Studie das Ziel seiner vorliegenden Arbeit. Es ist ein sehr hoher Anspruch den der diplomierte Soziologe hier – unter Referenznahme auf den klassischen Kanon der Soziologie, (politischen) Philosophie sowie partiell der Religionsgeschichte – an sich stellt. (Inwieweit er dabei neuere Forschungsergebnisse zur Thematik ignoriert, kann ich aus dem Stehgreif nicht beurteilen.) Er versucht vielseitig bzw. interdisziplinär das Problem zu beleuchten. Er nimmt dabei besonders auf die Systemtheorie Referenz. „Dieses Buch verdankt der Systemtheorie vieles, obwohl sie das Entfremdungssyndrom fast nur als Anomie (etwa: Regellosigkeit) der benachteiligten Unterschicht mit sich führt“ (12). Dementsprechend bildet Luhmann eine wichtige Referenz für ihn.
Seine beiden Haupthypothesen lauten:
„Zum einen ist für das Entfremdungssyndrom die im Moment den Einzelnen überfordernde Komplexität der Gesellschaft verantwortlich. Zum anderen verstärkt eine Vereinseitigung die kulturelle Krise, die auf einer Überbetonung der Ökonomie gegenüber Politik, Bildung und Wissenschaft und Kultur beruht.“ (11f.)
Diese Hypothesen verfolgt er in vier Abschnitten:
– Differenzierung des Subjekt-Objekt-Schema (Jenseits von Körper und Geist)
– ursächliche Erklärung des Entfremdungssyndroms (Das unglückliche Bewusstsein in der Theorie)
– kritische Auseinandersetzung mit dem traditionellen Gesellschaftsbild (Das unglückliche Bewusstsein als Tradition)
– neuere Anläufe für ein Gesellschaftsbild jenseits jener traditionellen Vorstellungen (Jenseits der unglücklichen Tradition)
Das klingt erst einmal sehr spannend und in Bezug auf die derzeitige Gesellschaft auch sehr relevant, aber leider weist die Studie sehr große strukturelle Mängel in Bezug auf die Kommunikation dessen auf.
Die Studie liest sich daher sehr zäh und wirkt partiell alles andere als „wissenschaftlich“. So schreibt er vom „schlechten Marxismus“ (12), ohne nähere Klassifizierung von „konventioneller Soziologie“ (77), „staatliche(r) Propaganda“ (231) oder witzelt über den „Fußgänger Thomas von Aquin“ (309). Er greift gelegentlich auch auf popkulturelle Aspekte zurück – mal auf einen Hollywoodfilm, mal auf Nina Hagen – und macht sich im Vorwort etwas über den wissenschaftlichen Duktus solcher Arbeiten lustig. Das bricht ein bisschen den angestrebten wissenschaftlichen Impetus, lockert aber nicht unbedingt den Stil auf.
Die vier Kapitel, die sich jeweils in mehrere Unterkapiteln gliedern, erscheinen meist unvermittelt und es fehlen Zwischenfazits, die dem/der Lesenden die Struktur verdeutlichen. Lediglich einmal (vgl. 238) gibt es eine Überleitung von einem Kapitel zum nächsten. Als Hilfestellung bietet sich zwar die Einleitung an, in dem er den Aufbau der Arbeit skizziert, aber das ist auch nur eine rudimentäre Unterstützung beim Lesen.
Der bedeutungsschwangere Begriff der „Entfremdung“, der eine Vielzahl von Konnotationen beinhaltet und mit Autoren wie z.B. Hegel, Humboldt, Marx, Feuerbach oder Camus gefüllt werden kann, wird nicht klar eingangs definiert.
Kilians Interpretation bzw. Lesart einzelner Autor*innen regen zum regen Widerspruch an (vgl. z.B. seine Rousseau-Deutung auf Seite 62 oder die Interpretation des Odysseus-Kapitels aus der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer) und entbehren fast immer einer näheren Erläuterung, die seine Lesart verständlich machen würde. Er geht implizit davon aus, dass seine Leser/innen den gleichen Interpretations- und Wissensstand haben. Z.T. wirkt es daher sehr esoterisch, was er schreibt. Das wird noch dadurch verstärkt, dass er gelegentlich autobiographische Aspekte einfliessen läßt, die sich nicht gleich dem/der Lesenden erschliessen. So beginnt das Unterkapitel „Die Symptome des unglücklichen Bewusstseins“ mit den Worten: „‘Man müsste halt mehr miteinander reden‘ entfuhr es vielen Interviewten auf die Frage, wie den bereits bei Jürgen Habermas (*1929) aufgelisteten Störungen (und einigen wenigen weiteren) zu begegnen sei.“ (176) Worauf er sich dabei bezieht bleibt leider unklar. Ein anderes Mal erfährt man von seiner jugendlichen Begeisterung für Technik und den Optimismus für die Atomkraft. Getreu Nietzsche möchte man ausrufen – „Wenn das Buch redet, hat der Autor sein Maul zu halten.“ Er scheint mehr für sich selbst seine Gedanken zu formulieren als seine Studie als eine Kommunikation mit seinen Leser*innen zu verstehen. Hier wäre ein/e Lektor/in in der Pflicht gewesen ihm zu mehr Lesbarkeit zu verhelfen.
Das Problem, was sich daraus ergibt, ist, dass seine diskussionswürdigen Ideen und Ansätze völlig untergehen. So findet sich u.a. der diskussionswürdige Gedanke: „Vielleicht wäre es sinnvoll, in ein Gesellschaftsbild mehr Kapazitäten zu investieren als in Schemata über Personen, Gruppen und Organisationen.“ (278) Hier zeigt sich u.a. ein interessanter Ansatz zum Weiterdenken und belegt die Stärke von ihm. Allerdings ist seine Studie zur Lektüre völlig ungeeignet, wenn man nicht die Möglichkeit hat, die Kapitel mit dem Verfasser direkt zu diskutieren. Des Weiteren setzt die Studie sehr viel Wissen aus den Disziplinen der Soziologie und klassischen politischen Philosophie voraus.
Maurice Schuhmann
Thomas Kilian: Gesellschaftsbild und Entfremdung. Die Folgen unverarbeiteter gesellschaftlicher Komplexität, Athena Verlag Oberhausen 2017, 582 S., Preis: 39,50 €, ISBN: 978-3-89896-672-6.
Website des Autoren: https://thomaskilian1966.wordpress.com.