Der Tagungsband zur von den beiden an der Universität Bern lehrenden Literaturwissenschaftlern Matthias N. Lorenz und Oliver Lubrich organisierten Tagung wurde nun beim Merlin Verlag, bei dem auch die Werkausgabe des französischen Autors erscheint, veröffentlicht. Das Thema „Jean Genet und Deutschland“ ist vielschichtig und interessant sowie voller Widersprüche. Im Vorwort schreiben die beiden Herausgeber: „Jean Genet und Deutschland – dieses Verhältnis war bestimmt von Anziehung und Abstossung. Nach seiner Heimat hatte das Nachbarland die grösste Bedeutung für Genets Poetik.“ (9) In sieben thematischen Blöcken nähern sich die BeiträgerInnen dem Werk Genets – z.B. bezüglich seiner Faszination für den Faschismus, was ihn, wie es Christine A. Knoop in ihrem Beitrag „Haben Gender und Queer Studies mit Genet ein Problem?“ darstellt, auch zu einem Problem für die Queer Studies macht. Die Wahrnehmung des Faschismus hatte auch einen enormen Einfluss auf seine Sympathie mit der Roten Armee Fraktion (RAF), die in Folge von Jean-Paul Sartres Engagement auch in den Fokus der französischen Öffentlichkeit rückte. Neben der Faszination für den Faschismus, der in Genets Roman „Das Totenfest“ ein zentrales Element ist, finden sich auch sehr lesenswerte Beiträge über „Jean Genet in der Bundesrepublik Deutschland“, „Homosexualität in Ost und West“, „Film und Theater“ und „Literatur“. Trotz der breit gefächerten Themenfelder kreist sich alles mehr oder weniger um das literarische Werk Genets. Dem Thema eigen ist jedoch eine Fokussierung auf die Homosexualität Genets, die seinen eigenen Blick auf die Welt bestimmte, sowie auf gewisse Referenzen. Eine redundant herangezogene Referenz ist hierbei natürlich das häufig zitierte, von Hubert Fichte geführte Interview, welches ursprünglich 1976 in der Wochenzeitung Die Zeit erschien. Das Verhältnis von Genet und dem deutschen Literaten Hubert Fichte bietet selber ein Forschungsthema für den Literaturwissenschaftler Bernhard Metz.
Neben den Analysen finden sich mit den Beiträgen von Rosa von Praunheim und von Andreas J. Meyer, dem Senior-Verleger des Merlin Verlages, auch persönliche Erinnerungen einfliessen. Ergänzend findet sich eine Bibliographie der Erstveröffentlichungen und –aufführungen Genets in dem Tagungsband, ein Auszug aus dessen provokanten Werk „Das Totenfest“ sowie ein Beitrag des Übersetzers und Buchhändlers Rolf Stürmer mit neueren Erkenntnissen zur Biographie Genets („‘J’ai tout a faire l’impression d’etre un mort.‘ Neue Erkenntnisse der biographischen Forschung zu Jean Genet“). Dem Buch liegt darüber hinaus eine DVD mit dem Beitrag „Focus Genet“ von Olaf A. Brühl bei. Illustriert ist der Tagungsband mit Fotos von Erstausgaben, Genet-Porträts und Szenenfotos aus Filmen sowie Theateraufführungen.
Die Beiträge weisen durchgängig eine sehr hohe Qualität auf und beleuchten viele, sehr unterschiedliche Aspekte jenes Verhältnisses von Jean Genet und Deutschland – meist aus einer literatur-, film- und theaterwissenschaftlichen Sicht. Der politikwissenchaftliche Blickwinkel fehlt hingegen – und würde sich gerade in Bezug auf die Faszination des Faschismus und seine Solidarität mit der RAF bewähren. Auf jeden Fall ist es ein wichtiger Beitrag zum Verständnis Genets und seiner Rezeption.
Maurice Schuhmann
Matthias N. Lorenz / Oliver Lubrich (Hrsg.): Jean Genet und Deutschland. Mit beiliegender DVD, Merlin Verlag Gifkendorf 2014, 448 S., Preis: 49,80 Euro, ISBN 9783875362909.