Philosophiert wird normalerweise am Schreibtisch oder in der Universität? Weit gefehlt. Philosophiert wird vor allem im Gespräch, auch im Selbstgespräch. Und nicht selten auch in Bewegung. Heißt Philosophieren doch, in Bewegung sein. Sogar der Name einer ganzen Philosophenschule verdankt sich diesem Bewegungsdrang. Die griechischen Stoiker sind benannt nach der „Stoa“, der Wandelhalle im alten Athen, in der sie sich zum gedanklichen Austausch trafen.
Philosophische Reiseführer oder Städteführer – die Rede ist von einer Buchgattung – setzen die Leserinnen und Leser ebenfalls in Bewegung. Es geht an die frische Luft, geht in bestimmte Regionen, Landstriche oder Stadtteile. Solche Führer zu literarischen Orten gibt es zahlreich. Sie führen zu Geburts-, Wohn- und Sterbehäusern von Dichterinnen und Dichtern – nicht selten heute Museen. Oder wenigstens zu ihren einstigen Aufenthaltsorten: Sommerfrische und Sanatorien zum Beispiel. Seltener allerdings zu Krankenhäusern oder psychiatrischen Kliniken. Friedhöfe und Gräber hingegen stehen ebenfalls hoch in der Gunst. Was zieht Besucher zu diesen Zwischen- oder Endlagerstätten? In der Regel kennt man ein literarisches Werk, also bestimmte Teile davon, ist davon beeindruckt oder weiß schlicht irgendwie um dessen ‚Wichtigkeit‘. Das genügt aber nicht. Man möchte Anteil am Leben der Autorin oder des Autors haben, liest vielleicht Biographien, Briefwechsel usw. Und diese Anteilnahme intensiviert sich, wenn sie zu einer örtlichen wird. Es gibt das Versprechen auf Authentisches. Hier wohnte X oder Y; hier hielt sie oder er sich auf; hier liegt sie oder er begraben. Dabei stellt sich Nähe ein. Die Fernbeziehung, vermittelt über ein bloßes geschriebenes ‚Werk‘, wird zu einer Nahbeziehung, zu einer geradezu körperlichen. Das gilt nicht nur für Literatur, sondern auch für andere Künste, etwa für Musik oder Malerei. Auch da gibt es – freilich relativ selten – Reise- und Städteführer mit dem Versprechen auf eine gewisse persönliche Nähe und Anteilhabe.
Aber für Philosophie? Für Philosophinnen und Philosophen? Hatte nicht Hegel – wenn ich es recht in Erinnerung habe – ungefähr behauptet: Alles was an Wahrheiten von mir stammt, kommt garantiert nicht von mir? Weil schlichtweg nur die reine Wahrheit durch ihn spreche, er also bloß das Medium sei und als Person und Persönlichkeit deshalb komplett belanglos und uninteressant? Heute wissen wir, solche ewigen Wahrheiten gibt es nicht. Denn es sind stets die ‚Wahrheiten‘ der jeweils Philosophierenden. Und manchmal verzichten sie ganz darauf, ‚Wahrheiten‘ in die Welt zu setzen. So oder so: Philosophinnen und Philosophen sind keine Sprachrohre des Weltgeistes. Ihre Fragmente, Hypothesen oder Systeme entstanden und entstehen in zeitbezogenen und persönlichen Auseinandersetzungen: im Ringen um Einfluss, um Ansehen oder gar um Macht, im Ringen um Karriere, um ökonomische Absicherung oder gar ökonomischen Erfolg. Und natürlich auch im Ringen damit, was ihnen als wahr und wichtig erschien. Genau das macht auch sie biographisch interessant. Sie lebten und arbeiteten zu bestimmten Zeiten, in bestimmten zeitbezogenen Konstellationen und an bestimmten Orten. Und diese konkreten Orte kann man besuchen, man kann sie besichtigen, sich zu ihnen hinbewegen. Insofern erfüllen auch philosophische Reise- und Städteführer einen nicht unwichtigen Zweck.
Maurice Schuhmann führt uns mit seinem philosophiegeschichtlichen Städteführer von Potsdam nach Berlin. Das ist zugleich eine Zeitreise – von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. In Potsdam lebte der preußische König Friedrich II., der „Philosoph auf dem Thron“. Einer seiner Gäste war Voltaire. La Mettrie fand bei ihm seine Zuflucht. Mit Diderot korrespondierte er. Hier, in diesem ersten Kapitel, zeigt sich gleich die kluge Komposition des Buchs: Es gibt erstens mit wenigen Worten eine kurze Einführung in Leben und Werk der behandelten Personen, führt zweitens dann an die Orte ihres Wirkens, und diese Orte werden drittens mittels hochklassigem Bildmaterial anschaulich erlebbar. Denn das ist ein schätzenswerter Vorzug dieses Buchs: seine Bildauswahl. Gezeigt werden Porträts, Karikaturen und Architekturbilder aus der Ist-Zeit der Akteure. Aber auch Fotografien von den Schaffensorten, wie sie heute aussehen (auch von Gräbern und Denkmälern). Und alles in ausgezeichneter Qualität. Mit Yvonne Schwarz ist an diesem Band eine professionelle Fotografin beteiligt, die wesentlich Anteil an seinem Gelingen hat.
Von Potsdam geht es dann nach Berlin – zur bürgerlichen Aufklärung. Ohne Rahel Varnhagen undenkbar! Auf einem der vielen gestochen-scharfen Fotos dieses Bandes blickt sie einen halb streng, halb schelmisch an. Mit Rahel und Persönlichkeiten wie den Brüdern Humboldt, Hegel, Heine, Schopenhauer, Bruno Bauer, Marx, Bakunin, Schopenhauer, Kierkegaard und vielen anderen kann man nun durch Berlin wandern. Der Autor – ein ausgewiesener Philosoph und Kenner vieler biographischer Hintergründe – führt uns auf zehn abwechslungsreichen Touren zu bekannten und zu entlegenen Orten: Gensdarmenmarkt, Tegel, Rixdorf, Halbinsel Stralau.
Diese Touren durch das Zentrum und die einstige Peripherie der Stadt sollen hier nicht näher nachgezeichnet werden. Nur so viel: Mit originellen Bildern und einem ausgefeilten Design hat man hier nicht nur einen Städteführer vor sich, sondern auch ein ebenso unterhaltsames wie inspirierendes Lese- und Bilderbuch. Zeitlich gesehen, endet es mit der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, mit einer Tour zu Rudolf Steiner. Man kann sich einen Fortsetzungsband vorstellen: Landauer, Simmel, Cassirer, Taubes, Dutschke, Margherita von Brentano. Oder wäre das zu speziell? Ist die große Zeit der Philosophinnen und Philosophen in Berlin seit über einhundert Jahren vorbei?
Olaf Briese