Ferdinand Blume-Werry
Vier Tage im Februar — Tägliche Intervention
Zurzeit leben wir in einer von allen Seiten ideologisch aufgeladenen Gesellschaft und erleben, von Tatsachen überhäuft, ein Ringen um Orientierung. Bis hin zu fest geglaubten Überzeugungen geraten Standpunkte ins Wanken, bilden sich Risse, Brüche, Frakturen und Fraktionen, aus denen das Kraut der Uneinigkeit schießt. All das ist Ausdruck einer durch Ideenwettbewerb gekennzeichneten Demokratie, deren Undurchschaubarkeit zugleich Populisten mit ihrem Bild einer ‚Normalität‘ Auftrieb verschafft; nachzulesen in einer Flut von Texten, die nicht nur Tatsachen behaupten, sondern realistischerweise selbst Tatsachen sind. Wir stellen deshalb die These an den Anfang, dass auch Texte Tatsachen sind, ist doch jeder Text das Ergebnis eines Tuns, für das wir verantwortlich sind, wenn wir aus freien Stücken gehandelt haben. Hier eröffnet sich für die Freiheit des Wortes zugleich eine ethische Dimension, sofern wir sie, die Freiheit, intuitiv als Handlungsfreiheit ansehen und damit ihre Rückführbarkeit auf uns als Handelnde; Freiheit als hinreichende Bedingung von Verantwortung. Die These ist zunächst nicht von der Hand zu weisen. In letzter Konsequenz wäre aus ihr die Forderung ableitbar, dass durch Wortwerke moralische Tatsachen in Geltung gebracht werden; und zwar für alle, nicht nur die literarischen Texte. Wir werden darauf zurückkommen und werfen zunächst einen Blick in das aktuelle Geschehen.
Denk ich an Deutschland … an diesem 15. Februar 2024, bestätigt mich die flammende Rede, die Claudia Roth auf der heutigen Eröffnungsfeier der 74. Berlinale hielt. Es sind die Beweggründe, die den Inhalt ihrer Gedanken führen, ihr als Kulturstaatsministerin entschiedenes Entgegentreten einer schamlos agierenden rechtsextremen und demokratiefeindlichen Minderheit. Noch vor Eröffnung des Film-Festivals wurde die Teilnahme von AfD-Politikern bei der Veranstaltung unterbunden. Was diese Partei seit Monaten als ›Alternative‹ für unser Land anbietet, ist ein populistischer Stimmenfang im Lager derer, die nicht mitdenken, sondern nur blind mitlaufen und dabei ein Gedankengut auferstehen lassen, das viele noch bis vor kurzem als tot glaubten. Wiedergänger nazistischen Terrors mit all den schlimmen Facetten, die messerscharf ins Fleisch der Freiheit fahren, der Vielfalt, der Herkunft, der Sprache und der Menschen. Ob die Ausgrenzung klug war, sei dahingestellt; letztlich befördert sie eine verzweifelte Polemik von Denkern wie Michael Andrick, der uns aktuell Im Moralgefängnis sieht und sich ausdrücklich „gegen einen demagogisch zur Einschüchterung des freien Wortes ausgeschlachteten ›Kampf gegen Rechts‹“ (S. 97) stellt.
… in der Nacht … liege ich mit den Gedanken über das wach, was all die gegenwärtigen gesellschaftlichen Kipppunkte mit mir machen und wie die von der Politik als „Zeitenwende“ ausgerufene Gegenwart mich unweigerlich auch in eine Vergangenheit zwingt, als sei die Erinnerung der einzig mögliche Ausdruck von Freiheit. Es ist knapp fünfzig Jahre her, als ich mich erstmals mit dem Problem der Freiheit ernsthaft auseinandergesetzt habe. Damals kam ich gerade von einer ausgedehnten Reise durch Spanien und Marokko zurück. In der Post lag der Einberufungsbefehl zum Grundwehrdienst. In mir rang meine pazifistische Grundhaltung mit der Einstellung, Urteile stets aus eigener Erfahrung heraus zu fällen, was mich zunächst dazu bewog den Dienst anzutreten. Es kam wie es kommen musste. Einschlägige Erlebnisse ließen mich verweigern und ich wechselte in den Zivildienst. — Im Traum mischen sich dann Bilder, die unheilige Allianz der kleinen und der großen Schrecken, eine sprachlose Welt. Die Repressalien, denen ich nach der bewussten Missachtung eines Schießbefehls ausgesetzt war, als ich noch glaubte, man könne das Kriegshandwerk abschaffen, durchziehen die unvergessenen Bilder des Massakers von Butscha.
… Dann bin ich um den Schlaf gebracht … bin am nächsten Morgen wieder fünfzig Jahre älter. Aus meiner Vergangenheit aufgetaucht holt mich am 16. Februar 2024 die Realität ein, eine im Laufe der Jahrzehnte gewandelte andere Wirklichkeit? Damals unsere Forderungen nach Abrüstung, heute Meldungen über die Notwendigkeit einer Aufrüstung, angeschürt durch den inzwischen schon zweijährigen Krieg in der Ukraine, den der diktatorische Kremlchef Putin lostrat. Und die traurige Nachricht über seinen prominentesten Gegner, Alexej Navalny, der heute in einem sibirischen Straflager verstorben sei. In den gleichgeschalteten Medien Russlands war davon nur am Rande die Rede. Während hierzulande die medialen Wellen hochschlagen und alles, was Rang und Namen hat, seine Betroffenheit zum Ausdruck bringt. Ein Sinnbild der Freiheit und ein Hoffnungsträger der russischen Opposition ist gestorben, vermutlich umgebracht worden. Die Kausalität der Ereignisse war vorauszusehen als Navalny nach dem auf ihn ausgeübten Giftanschlag und seiner anschließenden Behandlung in der Berliner Charité nach Russland zurückkehrte und mutig bis zuletzt zum Widerstand aufrief. Bestimmt nicht, um zum Märtyrer zu werden.
Spätestens an diesem Punkt wird der Unterschied zwischen physischer und geistiger Freiheit deutlich. War es nicht Solschenizyn mit seinen Berichten über die Straflager in der damaligen Sowjetunion, die mir vor fünfzig Jahren zum Inbegriff für die Freiheit des Wortes wurden? War mir die streckenweise quälende Lektüre seines Archipel GULAG im damals Kalten Krieg nicht zum Auslöser für erste Gedichte geworden? Mein altes literarisches Tagebuch, das mir kürzlich wieder in die Hände fiel, berichtet davon. Auch davon, was wir neben der philosophischen, gesellschaftlichen und religionsbezogenen Diskussion zum Thema mit der künstlerischen Freiheit meinen: einen phantasievollen Umgang mit dem Wort, der alle anderen Begriffe der Freiheit, wenngleich nicht mit einschließt, so doch auf sie zurückwirkt. Denn nur in der Kunst ist es möglich, auch das eigentlich Unvorstellbare darzustellen. Man denke etwa an Paul Celans Todesfuge, in der er das Oxymoron „Schwarze Milch der Frühe“ für die Schoah verwendet. Oder an den Birkenau-Zyklus von Gerhard Richter als Beispiel aus der Bildenden Kunst mit seinen übermalten und überakelten Flächen.
… Ich kann nicht mehr die Augen schließen … unerträglich sind die Geschehnisse auch im Nahen Osten. Das grauenvolle Massaker der Hamas im vergangenen Herbst und die völlig überzogene Reaktion Israels mit der Zerstörung des Gazastreifens, die den Tod zahlreicher palästinensischer Zivilisten in Kauf nimmt. Nicht hinzunehmen sind die Aktionen beider Seiten, da durch sie ein friedliches Miteinander nachhaltig untergraben wird und die Ausweitung des kriegerischen Konflikts auf die Nachbarstaaten droht. Erneut denke ich an die Stellungnahme, die Jürgen Habermas und andere dazu bereits im November des vergangenen Jahres auf der Homepage des Forschungszentrums für Normative Ordnungen veröffentlicht haben. Die Kontroversen, die dieser knappe Text seither ausgelöst hat, erinnern mich an die Gespräche, die ich im Sommer 1973, noch als Schüler und kurz vor dem Jom Kippur Krieg, auf dem Balkon des alten Rathauses von Jerusalem mit Vertretern der Stadt führte: Der schwelende Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen und deren Selbstbehauptung mit der beiderseitigen Versicherung nicht ursächlicher Auslöser der jeweils konfliktbeladenen Auseinandersetzung zu sein. Die Betonung geschichtlicher und religiöser Unterschiede statt einer Fokussierung auf für alle gleichermaßen geltende Rechte. Die radikale, teils militante Siedlungspolitik im Westjordanland statt eines ernsthaften Strebens einer durch die internationale Völkergemeinschaft anzuerkennenden Zweistaatenlösung. Schließlich misst das Völkerrecht nicht mit zweierlei Maß.
… Und meine heißen Tränen fließen … heißt es weiter in Heinrich Heines Nachtgedanken. Inzwischen ist der 17. Februar angebrochen. Heines Todestag. Zu unrund, um in den Kulturnachrichten erwähnt zu werden. Stattdessen bestimmt weiterhin Politisches das Tagesgeschehen. Um Hans-Georg Maaßen wird eine neue Partei gegründet, die sogenannte Werte-Union, deren Gründungsprogramm den Titel „Wir wählen die Freiheit“ trägt. Eine Partei, die im politischen Spektrum eindeutig hinter der Brandmauer anzusiedeln ist, die inzwischen selbst von der rechtskonservativen Mitte rhetorisch hochgezogen wird. Man behalte das antisemitische und verschwörungsideologische Vokabular des Gründers in Erinnerung, auch seine völkische Ausdrucksweise.Vor diesem Hintergrund muss es irritieren, wenn sich die neugegründete Partei ausgerechnet den Begriff der Werte auf ihre Fahnen schreibt und sich sozusagen die Freiheit herausnimmt, einem Wertesystem folgen zu wollen, das nur für sie als begrenzte Gruppe gilt. Insofern ist es nicht überzogen, dass die durch den Parteinamen ausgedrückte Union der Werte dem Irrweg eines Wertepluralismus folgt. Erinnern wir uns an das, was vor 90 Jahren von Carl Schmitt infam als „Verfassung der Freiheit“ bezeichnet wurde, nämlich die antisemitischen Nürnberger Gesetze, so drängt sich geradezu der Gedanke auf, dass der ehemalige Verfassungsschutzpräsident im Kielwasser des umstrittenen Verfassungsrechtlers schwimmt und damit einen bestimmten Wertekodex der doch universalen Gültigkeit von Werten gegenüberstellt.
Nichts … lächelt fort die deutschen Sorgen …, die wir uns auch dann zu eigen machen, wenn sie in der Ferne stattfinden, einer Ferne, die es in einer globalisierten Welt jedoch nicht mehr gibt. Auch am 18. Februar, einem Tag, an dem ich mal wieder an Julian Assange denken muss, dem bei Auslieferung Großbritanniens an die USA 150 Jahre Haft wegen Geheimnisverrats drohen. Nicht nur seine Unterstützer wie Günter Wallraff, selbst der UNO-Sonderberichterstatter für Folter sehen in dem Prozess des Wikileaks-Gründers eine Bewährungsprobe für freie Demokratien. Nackte Tatsachen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, muss möglich bleiben. Assange ist für die Veröffentlichung verantwortlich, nicht aber für den Inhalt der veröffentlichten Informationen. Somit stellt sich die Frage, welchen Stellenwert wir in unserer freiheitlichen Welt noch der Wahrheit beimessen; und das bei gleichzeitiger Verurteilung ihrer Unterdrückung in diktatorischen Systemen. Bedenken wir nur die unverhohlene Nähe zu den Winkelzügen putinistischer Rhetorik, die Donald Trump mit seinen täglichen Aktionen durch Fake News vom Zaun bricht, so stellt sich die Frage als um so dringlicher, inwiefern Tatsachen, die doch objektive Wahrheiten sind, mit tatsächlicher Amoralität einhergehen: Wenn die Freiheit des Wortes durch Demagogen missbraucht wird. Wenn selbst europäische Politiker vereinzelt die Tendenz zeigen, demokratische Strukturen zu unterwandern. Wenn Freiheit nicht mehr an Verantwortung geknüpft wird, sondern missbräuchlich in nurmehr machtpolitisches Kalkül umschlägt …
Die Frage bringt uns zurück zu der eingangs formulierten These. Welche Wege einer Freiheit des Wortes wollen wir gehen und wie äußert sie sich in einzelnen Texten? Was ist durch die Meinungsfreiheit in einer parlamentarischen Auseinandersetzung gedeckt und was grenzt an Hetze? Wie wirkt sich die oftmals in der digitalen Parallelwelt zu beobachtende Hemmungslosigkeit auf unsere analoge Welt aus? Folgt inzwischen unser ›digitales Ich‹ nicht einem völlig anderen, an Willkür grenzenden Begriff der Freiheit, begünstigt durch eine scheinbare Anonymität des Internets und dem Glauben, einer Verantwortung für Posts entzogen zu sein? Und schließlich: Was bedeutet die Freiheit des Wortes für künstlerisch-schriftstellerische Texte, die wesentlich einer Deutung bedürfen und nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3) einem besonderen Schutz unterliegen? Die These lautete — im übrigen gegen Nietzsches nachgelassene These „Gerade Tatsachen gibt es nicht, sondern nur Interpretationen“ —, dass auch Texte Tatsachen sind, dass sie aus einer Freiheit entstehen und dass diese eine Verantwortung begründet, womit Texte zugleich moralische Tatsachen auf den Plan rufen. Gleichwohl sind Texte von einer natürlichen Außenwelt unterscheidbar. Sie gehören einem anderen Wirklichkeitsbereich oder Sinnfeld an. Der Stein, über den wir frühmorgens vor der Tür stolpern, ist ein anderer als derjenige, welcher uns über sein Wort in einem Text stolpern lässt. Letztlich sind beides Zeichen, über die wir wahrheitsfähige Aussagen treffen können. Man könnte sagen, ein Text sei eine Tatsache im Wirklichkeitsbereich der Sprache; das was ihn zur Tatsache macht, sei sein propositionaler Gehalt.
Als Schriftsteller gehören Texte zu unserem ontologischen Inventar. Sie sind integraler Bestandteil unserer Wirklichkeit, deren Wirkung den sensorisch vorgefundenen Tatsachen einer empirisch zugänglichen Welt in nichts nachsteht. Nicht zuletzt, da auch Fiktionen etwas Wirkliches sind, plädiere ich für eine realistische Sichtweise auf unsere umbrechende Welt. Führt doch ein fiktiver Irrealismus, der behauptet, dass etwas etwas anderes sei, zu weiteren Desorientierungen, auch hinsichtlich unserer Wertvorstellungen. Existieren doch moralische Tatsachen unabhängig von unseren subjektiven Einstellungen und sind nicht auf andere Tatsachen reduzierbar. Folgt man somit der nicht-naturalistischen Sichtweise eines moralischen Realismus, so sind zweifelsohne moralische von natürlichen Tatsachen metaphysisch unterscheidbar. Erstere liegen sui generis vor und sind weder mit dem Text identisch noch auf ihn reduzierbar; gleichwohl sind sie aber aus ihm ablesbar. In diesem Zusammenhang wird es darauf ankommen, in der derzeit aufgeheizten Politisierung von Sprache deutlich zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Texten zu differenzieren und uns dafür zu sensibilisieren, inwiefern die Kunstform inzwischen für völkisch-rechtsradikalisierte Äußerungen missbraucht wird, was insbesondere in der Musikszene zu beobachten ist. Dabei haben die bitter- abgründigen Texte der Hammerskins im Vergleich zu den abgrundsüßen Gedichten des Rammstein-Sängers Till Lindemann nichts gemein; ebensowenig wie die an Verblendung nicht zu überbietenden Reden eines Björn Höcke mit dem oftmals zu zaghaften Licht, ja Streulicht der derzeitigen Regierungskoalition.
Wörter befreien die Dinge auf seltsame Weise. Eine künstlerische Erfahrung kann keine wissenschaftliche Erklärung sein, in der Freiheit durch manche als emergentes Bewusstseinsphänomen beschrieben wird; Krücke einer Erklärung, mit der wir um die Wiedergewinnung einer verlorenen Einheit ringen. In einem Gedicht sind es gerade die sich überlagernden Sinnfelder, die Komposition, das In-Eins-Kommen dessen, was eine Philosophie, um konsistent zu sein, als getrennte Bereiche erachten muss: „In mir das Gedicht in den Kiefern“ lautet die Schlusszeile von Robert Schindels Gedicht Ich möchte es wieder haben. Die sinnliche Erfahrung einer Kiefer korrespondiert mit ihrer ästhetischen Erfahrung im Text. Die Freiheit des Wortes, in diesem Fall des dichterischen, verweist hier sprachreflexiv auf den Prozess des Verstehens, letztlich auf die Semiose, die das Wort zurückwirft auf den durch ihn bezeichneten Gegenstand und umgekehrt, um das Rad der Bedeutung in Schwung zu halten. Ihm sich auszuliefern ist unser tägliches Brot.
Ferdinand Blume-Werry lebt in Hamburg als Maler und Schriftsteller und studierte Indologie und Philosophie. Blume-Werry ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Er schreibt Gedichte und Essays. Zuletzt erschienen poetologische Gedichte unter dem Titel „Der Dinge Stimmen“ im Dr. Erwin Rauner Verlag, Augsburg. Die Erstveröffentlichung seines Essays „Vier Tage im Februar“ erschien 2024 in der Anthologie „Freiheit des Wortes“ im Kulturmaschinen Verlag.