Roger Willemsen ist gestorben und ich tue mich schwer zu sagen, er sei tot. Seine Veröffentlichungen, aber auch seine vielfältige Arbeit für die Kunst, für die Kultur, für Humanismus und Menschenrechte werden ja bleiben.
Ich will sein Werk nicht und nicht sein Leben würdigen. Allerorten wird das dieser Tage geschehen. In der TAZ ist es bereits in einer bedauerlichen Art und Weise durch Jan Feddersen geschehen. Darüber will ich schweigen.
Aber der Verlust zeigt meiner Meinung nach einen erheblichen Schwund auf, einen Niedergang, der schmerzt und der – ich glaube nicht, dass ich falsch liege – von einem Zerfall der Bildung, Kultur und Kunst zeugt.
Hätte man in den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren gefragt nach drei Philosophen, die aus dem Stegreif zu nennen seien, so hätte der durchschnittlich gebildete Deutsche Habermas, Adorno oder Bloch genannt als quicklebendige Exemplare der Gattung Intellektueller. Und nun? Leere. Sloterdijk vielleicht noch, der einen langen Schatten wirft, weil die Sonne tief steht.
Hätte man gefragt nach Journalisten, so hätte man von Axel Eggebrecht, Rudolf Augstein oder Gerd Bucerius gehört. Und jetzt? Prantl vielleicht, verdienstvoll, aber allein auf weiter Flur.
Und in der Bildenden Kunst? In der sogenannten – ich entschuldige mich für diesen Ausdruck, den man aber in Deutschland gebrauchen muss – ernsten Musik? Selbst beim Schlager sehen wir, gemessen an den Siebzigern, alt aus. Es ist zum Heulen.
Als über einen Zeitraum von mehreren Generationen die römischen Bibliotheken brannten, als es zu den Buchverlusten der Spätantike kam, muss es vielen der damaligen Intellektuellen, die es ja gab, vorgekommen sein, wie es mir heute vorkommt. Nur, dass ich die ruhige Zuversicht habe, dass es aufgrund der technologischen Entwicklung gottlob nicht mehr so weit kommen kann, wie damals. Uns droht keine dunkle Zeit, uns droht nicht der Schriftverlust, wie zweitausend Jahre vorher der ersten Hochkultur in Griechenland. Aber uns droht eine erhebliche Kulturlosigkeit.
Man hat, mit dem Argument der Wettbewerbsfähigkeit die Schulzeit bis zur Hochschulreife gekürzt, man hat, statt die Idee des interdisziplinären Studiums auszubauen, mit den Bachelorstudien ein verengtes und völlig unzureichendes Schmalspurstudium geschaffen, dass durch einen draufgesattelten Masterstudiengang einwenig verbreitert werden kann. Man hat die Universitäten verschult und es so erreicht, dass Hochschulabsolventen die Institute verlassen, die weder ausreichend im Fach gebildet wurden, noch wissen, was Forschung und Lehre eigentlich bedeuten können.
Uns fehlen tausende an Lehrerinnen und Lehrern, uns fehlen Professorinnen und Professoren und uns fehlt eine anständige Bezahlung derer, die Bildung, Wissen und Kultur vermitteln sollen. Eine anständige Bezahlung in einer sicheren Berufsumgebung, mit dauerhaften Verträgen. Die Universitäten sind voll mit Menschen in prekären Beschäftigungen, von denen man erwartet, dass sie Sorge für die Wissensvermittlung an die Studierenden tragen. Die Forschung ist fast flächendeckend abhängig von Drittmitteln und damit einer dauerhaften Korrumpierung ausgesetzt. Der Staat nimmt seine Aufgaben nicht wahr.
In einem Klima von materieller Unsicherheit und in der Tat oft klarer finanzieller Not, kann sich Kultur und Wissen nicht entwickeln. Wo sollen die Philosophen und Naturwissenschaftler denn herkommen, wenn sie kein Auskommen finden können? Wie soll die Forschung und Lehrer unabhängig sein, wenn sie am Tropf der Drittmittel hängt.
Wir zerstören einen wesentlichen Teil dessen, was uns ausmacht. Das gilt nicht nur für Deutschland, es gilt für Europa, die USA und Russland. Allenthalben tritt an die Stelle der staatlichen Förderung und der Freiheit die enge Verwaltung und Gängelung. Das liegt in Deutschland auch daran, dass die Staatseinnahmen, also die Steuern und Gebühren absichtlich heruntergefahren wurden. Von der Regierung Schröder übrigens, also einer rot-grünen Koalition, die ohne Not die Spitzensteuersätze gesenkt hat. Und natürlich wirkt eine solche desaströse Politik über die Zeit immer verheerender.
Wir brauchen reale Reformen und nicht reale Deformationen im Schulwesen, mehr Wissensvermittlung braucht mehr Zeit – und technologischer Fortschritt braucht Zugang zum Schulwesen. Wir brauchen kein verschultes Studium, keine Schnellstudiengänge, sondern interdisziplinäre Universitäten und ein Studium ohne Druck. Wir brauchen die finanzielle Absicherung der Studierenden ebenso, wie viel mehr Professorenstellen und eine ausreichende Bezahlung für Assistenten und andere an der Forschung und Lehre Beteiligten.
Dann wird man in ein paar Jahren vielleicht wieder ohne Mühe drei Namen von Philosophen, Journalisten, Künstlern und Naturwissenschaftlern zu hören bekommen, wenn man irgendwen auf irgendeiner Straße fragt, die vielleicht Roger-Willemsen-Straße heißt.
Foto Wikipedia, CCL 3