I.)

Das zwanzigste Jahrhundert war, mindestens ab seinen zwanzigern Jahren, auch ein Jahrhundert der intellektuellen, insbesondere der philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Dekreszenz. Staatstheorie, politische Philosophie und die Forschungen zur Neueren Geschichte (aber zum Teil auch zur Frühgeschichte) unterlagen in hohem Maße insbesondere reziproken ideologischen Scheinnotwendigkeiten und determinierten damit den gesellschaftlichen Erkenntnisprozess erheblich abfallend.
Selbstverständlich gibt es gleichwohl dauerhafte Leistungen sowohl in der UdSSR (späterhin im sogenannten «Ostblock»), als auch im «Westen». Wolfgang Harich, Grigori Solomonowitsch Pomeranze, Boris Aleksandrovič Čagin, Alexander Alexandrowitsch Sinowjew oder Theodor Adorno, Jürgen Habermas, Karl Popper und Eric John Ernest Hobsbawm seien hier stellvertretend für eine Reihe weiterer genannt. Hinzu kommen die französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, deren ungeheurer Einfluß auf die Philosophie in beiden Systemen in vielen Werken anderer Philosophen gespiegelt wird. Gleichwohl drehen sich auch ihre Werke zu einem erheblichen Teil um den Schwerpunkt «Stalin».
In der Blockkonfrontation verhinderte die Gravitation Stalins selbst, aber auch die Nachwirkungen seiner Herrschaft und der damit verbundenen inneren Verwerfungen, Ausblutungen und Zerstörungen, dass es zu einer offenen, nicht der Konfronation verhafteten Entwicklung von Ideen kamen, die im Gesamtdiskurs durchschlagend hätten sein können. Immer wieder bezogen sich Schöpfungen, Betrachtungen und andere Werke auf die allgemeine Weltlage IM Kontext der sich immer weiter abschleifenden ideologischen Weltsichten. Nur wenige Werke befreien sich in der Zeit aus dieser, sich immer weiter verflachenden, Dienstbarkeit.
Das gilt sowohl für die, sich zum Teil selbst so bezeichnenden, marxistisch-leninistischen Theoretiker, als auch für die Philosophie, die anderen Ursprungs ist.
Ein erheblicher Teil der kruden, verflachten, eindimensionalen und oft vollständig fehlerhaften Weltsichten aller Standorte, resultieren in ihrer Deformation aus der Verflachung der jeweilig nahestehenden Philosophie und historischen Forschung.
Meiner Meinung nach lässt sich der Niedergang sowohl sozialistischer als auch bürgerlicher Politik und die Rückwendung zum Nationalstaat als Rettungspunkt und die Tendenz zu administrieren, statt zu schaffen auf diese intellektuelle Regression zurückführen: Die Visionslosigkeit der Politik vieler Parteien, Regierungen, vieler Abgeordneten auch, von Russland bis in die USA, ist, so meine ich, indirekt aus diesem Verfall ableitbar.
Solange es nicht gelingt, die Determinanten, die durch diese Konfrontation gesetzt worden sind, zu rein historischen Größen zu machen und sich also aus sogenannten Lehren zu lösen, um neue Lösungen zu entwickeln, die nicht die Fehler fortschreiben — so lange wird die Linke insgesamt weder in europäischem Rahmen noch gar global in die Lage kommen an Stärke zu gewinnen. Und die demokratisch-bürgerlicher Philosophie und Staatslehre verliert das im Wettstreit gewonnene Terrain an tendenziell oder offen totalitäre Politikkonzepte, die die Staaten als zu administrierende Unternehmen ansehen oder gar zum völkischen Nationalstaat unter dem Patronat von Honoratioren zurückkehren wollen.

Robert Steigerwald, mit dem ich ja befreundet war, hat in seinen letzten Arbeiten erkannt, dass sich grundsätzlich etwas ändern muss in sogenannter «linker» Analyse. Ich weiß um die Besorgnis vieler bürgerlicher Intellektueller um die Verfassung bürgerlicher Philosophie und Staatswissenschaften.
Die Simplifikation bei der Bewertung von Krisen und Kriegen ist auf «beiden Seiten» immer noch das Ergebnis der Blockauseinandersetzungen. Ohne die alten Perspektiven noch zu haben, wird gehandelt, als stünden sich die Blöcke weiterhin gegenüber. Die jeweilige Sichtweise auf den vermeintlichen Gegner bemüht oft die alten Vorurteile und Verflachungen.

II.)

Die Mär, die sogenannten sozialistischen Staaten wären an ihrer mangelnden Produktivität und der Nichtbefriedigung von Konsum zugrunde gegangen, die DDR also wäre an der Bananenfrage gescheitert, ist eben dies: eine Mär. Tatsächlich sind die Staaten in der Folge von Glasnost und Perestroika deshalb kollabiert, weil das übermächtige Grundproblem nur um den Preis des Systembruchs aufgelöst werden kann. Und dieses Grundproblem ist die Einparteienherrschaft. Auch dann, wenn sie, wie in der DDR durch Scheinparteien verbrämt wird. Die daraus resultierende mangelnde Opposition und der gesellschaftliche Stillstand lassen sich nur durch unterdrückende Maßnahmen beherrschen. Man kann nicht zugleich den gesellschaftlichen Fortschritt für sich vereinnahmen und als Ziel die «freie Assoziation der Produzenten» verkünden und zugleich eine Gesellschaft ohne freie Rede, ohne Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit und Koalitionsfreiheit organisieren. Der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität ist unlösbar. Die sogenannten (oder wirklichen) sozialen Errungenschaften sind dabei keine Substitute für mangelnde Freiheit.
Es ist die durch die stalinsche Machtübernahme in der Sowjetunion geschaffene Verwerfung zwischen Behauptung und Wirklichkeit, die zum Zusammenfall der sozialistischen Staaten geführt hat.
Die Freiheitsrechte aber sind revolutionäre Rechte. Sie sind in vielen Revolutionen und Revolten erkämpft worden. Sie sind das Fundament, auf dem jede fortschreitende gesellschaftliche Entwicklung aufbauen muss. Die stalinsche Wende hat zur Zerstörung dieses Fundaments geführt. Diese Zerstörung wirkt weiterhin. Die falsche Vorstellung mit Zwang den Zwang bekämpfen zu wollen, ist auch weiterhin bei vielen verbreitet.