Ein Mythos wird entmythologisiert. Aus den Germanen, diesen ganz schuldlos in die Ausdünstungen deutscher Dampfgehirne geratenen Angehörigen verschiedener Stämme, macht das Buch von Norbert F. Pötzl und Johannes Saltzwedel (Hg.) wieder Menschen. Es lohnt sich also auch für die, welche glauben, am Germanentum, das es freilich nie gab, solle die Welt verwesen, das Buch zu lesen. Es könnte eine Wende in ihrem verkorksten Leben sein.
Das Buch ist keine chronologische Schilderung des Weges von nicht keltischen Stämmen im Norden Europas bis zu ihrer Findung als Franken, Sachsen usw. – oder, um es auch der Sicht geschichtsschreibender Völker, wie der Römer, zu sagen: zu Germanen. Vielmehr wird an den Großpunkten europäischer antiker und spätantiker Geschichte entlang die Entwicklung der Stämme aufgezeigt. Damit kein falscher Eindruck entsteht, widmen sich die Autoren gleich zu Anfang den deutschen Nationalisten. Nichts hatten die Stämme, die jenseits von Rhein und Donau siedelten mit dem gemein, was ihnen die Germanentümelei anhängen wollte. Sie waren, wenn man so will, das Gegenteil von dem, was ihnen späterhin nachgesagt wurde. Das Volk, der Haufen also der folgt, denn daher kommt das Wort, der Goten nahm jeden auf, der sich anschloss. Auf die Idee von Stamm und Rasse kam kein anständiger Germane. Darauf kamen erst die unanständigen späterer Jahrhunderte.
Von den Ursprüngen, den Ergebnissen der Archäologie und auch auch der Geschichte der Geschichtswissenschaften bis zu den Langobarden in Italien, schlagen die, von Pötzl und Saltzwedel gewonnen Autoren, einen Bogen, der reich mit Wissenswertem bebildert ist. Angefügt ist dem Buch eine ‚Kleine Chronik‘.
Die entscheidende Leistung aber ist es, dass die Germanen, die es als solche im Eigenblick gar nicht gab, sowohl der Mythologisierung durch die Germantümler enthoben werden, als auch ihrem falschen Image als tumbe Barbaren verlustig gehen.
Die Stämme, untereinander immer wieder in kriegerische Auseinandersetzung verstrickt, immer wieder neue Bündnisse schmiedend und nach neuen Siedlungsgebieten suchend, hatten trotz aller Widrigkeiten und der Abgelegenheit ihrer Gebiete rege Handelskontakte bis an Mittelmeer und das Schwarze Meer. Sie nahmen in Zeit des Überganges von Antike zu Spätantike hohe und höchste Positionen im Römischen Staatswesen ein. Und sie schufen, insbesondere die Franken, die Grundlagen für das Europa, das wir heute vorfinden. Sie taten all dies nicht als „Germanen“, sondern als Stammesangehörige von kulturell zwar verbundenen und doch erheblich unterschiedlichen Gemeinschaften.
Neunzehn Autoren, überwiegend aus der Spiegelredaktion, zeichnen so ein journalistisches, manchmal reportageartiges Bild einer Stammesgruppe, deren herausragendes Merkmal vermutlich ist, an der Wende zur Spätantike das Machtvakuum zu füllen, welches der auch durch sie ausgelöste Niedergang des Römischen Imperiums in Europa hinterließ.