Eine Berlin-Erzählung von Wolfgang Priewe
Von Achim Ruppel
„Früher roch die ganze Stadt nach Kohle, aber heute, fast alles zentralgeheizt. Eine Stadt ohne Geruch…“ Wer erinnert sich nicht daran oder hätte als Zuzügling ins Mauer umschlossene Berlin nicht angefangen mit ‚2 Zimmer, Kachelofen, Außenklo‘? Und wer kennt sie nicht die großartigen Altbauwohnungen mit Stuck an der Decke, Doppelflügeltüren, Dienstboteneingang über die Hoftreppe direkt in die Küche, schmuckvollen Kachelöfen in jedem Zimmer? Ob arm oder reich, für die kalten Tage mußte man Kohle schleppen oder schleppen lassen, noch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stand täglich ein Kohlenlaster in der Straße, wo irgendwer für den Winter Vorsorge treffen wollte. So wanderte Kiepe für Kiepe, Zentnerlast um Zentnerlast in die Keller oder für zusätzliches Treppengeld in die höheren Etagen. Mit Lederweste und Käppi, die linke Hand auf dem Rücken, worin die schwere Kiepe aufsaß und mit der Rechten über die Schulter an einem kurzen Lederriemen fest an den Körper gezurrt wurde: ein Kraftakt für den Kohlenmann, tagaus, tagein.
Kasimir Beck heißt der Kohlenmann, 55 Jahre, besonders auffallend sind seine großen Hände, mit denen er 25 aneinandergepresste Briketts mühelos zusammenhält. Und auch immer mal wieder einen davon wütend gegen seine Kellerwand pfeffert. Denn um diesen Mann mit seinen klobigen Händen und seiner abschreckenden Kraft machen viele einen Bogen, so dass sein Ort des Vertrauens und des Rückzugs der eigene Kohlenkeller ist, in dem er inmitten seiner tiefschwarzen Schätze versucht Ruhe zu finden oder sich auch in krachendem Getöse eines gegen das Mauerwerk geschmetterten Brikettbündels von seiner in Einsamkeit erdrückten Stimmung befreit. Kasimir Beck hat den breiten Nacken eines Stiers und die zarte Seele eines Schmetterlings.
Wolfgang Priewe führt uns in das fast vergessene Neukölln, das mitten in seinem Multikulti-Patchwork wie auf einer geheimnisvollen Insel fortbesteht. Ab Ende des 19. Jahrhunderts war das wichtigste Heizmittel die Kohle. Noch gut eine Million Tonnen Kohle werden Anfang der 90er-Jahre verheizt, knapp zehn Jahre später genügen fünf Prozent davon. Denn seit den 1950er-Jahren drängt sich das Heizöl vor. Der traditionsreiche Kohlenmann verschwindet, der Autor setzt ihm ein Denkmal. Und statt dem wortkargen Kasimir sprechen die Bilder vom alt-typischen Berlin, das man noch in der unauffälligen Eckkneipe nahe dem Hermannplatz finden kann. So kraftvoll wie sein Kasimir den Kohlensack balanciert, gestaltet der Autor seine Szenen. Was man braucht, wird auf den Punkt gebracht, egal ob es sich um die knappe Antwort seines Protagonisten handelt oder die prägnante Beschreibung der eingespielten Geschehnisse um Bier, Buletten und Korn. Auch wenn man glaubt, diese Welt zu kennen, eine Welt aus Routine von Gedanken, die gar nicht ausgesprochen werden müssen, weil sie selbstverständlich sind, möchte man doch schnell hingehen und mitten drin sein, wenn Kasimir seine Riesenfaust auf den Kneipentisch hämmert oder in wortloser Nervosität einen Bierdeckel nach dem anderen zwischen seinen Fingern zerbröselt. Da fühlt man sich als Leser auch als hautnaher Beobachter, man möchte in dem Wartezimmer für vereinsamte Neuköllner Rentner, Arbeitslose und Raucher mit dabei sein, den Finger heben und hoffen, dass Inge schnell ein Bier bringt und sie anschauen, diese Wirtin mit hennarotem Haar und tief dekolletierter Bluse, die jeden im Blick hat und doch unnahbar scheint.
Bilder in Schwarzweiß wie bei einem großen Kinoklassiker in Cinemascope tun sich da auf, eine Atmosphäre flirrend dicht wie das auf zerschlissenem Zelluloid sichtbare Korn, es knistert, Ungeheures liegt in der Luft, bis dann Inge schnell hinläuft an den Tisch und die beiden sich streitenden Freunde Kasimir und Michael mit einem Frischgezapften auf bessere Gedanken bringt. „Watt soll ick jetzt machen?“ steht noch eine Weile in der Luft und findet nur selten die nächstliegende Antwort.
Denn die beiden haben viel vor, seitdem Michael dem Kohlenmann den Floh ins Ohr gesetzt hat, er sei Künstler. Immerhin führt diese Idee zur Kehrtwende und weg von den Phantasien, auf die man heutzutage als arbeitsloser Akademiker und Hartz4er im traditionellen Arbeiterbezirk schnell kommen kann. Kasimir als Relikt einer vergangenen Zeit kann mit solchen Gedanken nichts anfangen, aber Künstler, ja Künstler, das könnte für ihn was sein. Da fängt einer plötzlich und nach Jahren an, über sich nachzudenken, und wie er sich entdeckt, entdeckt er auch die anderen, sogar die Liebe. Wundersames passiert im späten Leben des Eigenbrötlers, an einem heißen Sommertag im August fängt es an, mit einer ganz normalen Lieferung von fünf Zentner Briketts.
Wolfgang Priewe ist (Ur-)Berliner und kennt sein Berlin. In Neukölln hat er in den verschiedensten Ecken gewohnt. Und wenn er sein Berlin beschreibt, das gestrige mit den Schwaden verbrannter Kohle aus den Schornsteinen in der Luft und dazu seinen Kasimir, der so gerade aus ist, dass es weh tut und wohltuend zugleich ist, dann steht diese Erzählung aus dem Leben eines Kohlenträgers für eine besondere Kraft, die dieser so seltsame Zusammenwuchs aus vielerlei Städten namens Berlin verströmt und so viele Menschen aus Nah und Fern anlockt. Burn Berlin Burn ist ein bemerkenswertes Debut als Schriftsteller!
Wolfgang Priewe Burn Berlin Burn | Erzählung
Westkreuz Verlag Berlin/Bonn
124 Seiten | € 14,90