Ach, wie gerne hätte ich sie kennengelernt, jetzt, nachdem ich sie kennengelernt habe: Mädchenhimmel! hab ich gelesen. Ganz sehnsüchtig bin ich nach ihr, nach Lili Grün. Aber ich kann sie nicht kennenlernen und hätte sie auch nie kennenlernen gekonnt, denn Lili Grün wurde 1942 ermordet und da war ich, falls es diesen Zustand geben sollte, ungeboren.
Der Aviva-Verlag hat mir die Sehnsucht angetan. Er gibt seit 2009 das Werk von Lili Grün heraus. Bislang ist es ganz an mir vorbegegangen. „Herz über Bord“ und „Loni in der Kleinstadt“ – das muss ich unbedingt noch lesen. Unbedingt. Und so wie es mir geht, wird es auch anderen gehen.
Einen kurzen Blick nur wollte ich werfen in das Buch, das man mir zur Rezension zugesandt hatte und dann war der Abend gelaufen und ich las Mädchenhimmel!, dieses Buch, zu dessen Titel unbedingt das Ausrufezeichen gehört, weil auch das Gedicht, welches dem Buch den Titel spendet, eines hat.
Aus Gedichten und Kurzgeschichten besteht das Buch. Gedichten, die leicht aufs Papier geworfen erscheinen und es nicht sind, Geschichten, die sich schnell lesen, wie die von Tucholsky und poetisch sind, wie die von Kästner – um in der Zeit zu bleiben.
Lili Grün gehört zu jenen, die vergessen gemacht worden sind. Den verbrannten Dichterinnen und Dichtern, jenen, über die mit hartem Schritt der Faschismus gegangen ist und die – man hat ja nicht ordentlich die verwüstete Flur umgegraben – bedeckt und verdeckt vom braunen Bodensatz auch nach 1945 keine literarische Wiederauferstehung erleben sollten.
Dabei hätte gerade die Bundesrepublik Deutschland, der westliche Teil also, diese Auferstehung gebraucht. Lili Grün berichtet mit großer poetischer Kraft und schriftstellerischer Leichtigkeit aus dem Leben von Frauen; berichtet von Liebe und dem täglichen Leben und dabei entsteht das Bild einer sich emanzipierenden Frau in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ja, das hätte die BRD gebrauchen können, in der bis 1958 der Ehemann die Arbeitssteller seiner Frau fristlos kündigen konnte und wo Frauen bis 1977 noch die Einwilligung ihres Mannes brauchten um einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Da hätte die Erinnerung an solche Frauen, wie Lili Grün ganz offenbar eine war, gut getan.
1904 wurde Lili Grün in Wien geboren. Sie lernte, Tochter eines Kaufmanns, Kontoristin, nahm jedoch schon bald Schauspielunterricht, spielte auf der Bühne der Sozialistischen Arbeiterjugend und begann früh zu schreiben. Ende der Zwanziger ging sie nach Berlin und wurde Teil der sehr regen und literarisch wichtigen Kabarettszene um Ernst Busch, Hans Eisler und anderen. Anfang der dreißiger Jahre schon ging sie zurück nach Wien. Ihr Debütroman „Herz über Bord“ wurde enthusiastisch aufgenommen. Aber mit dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich verlor sie als Jüdin die Möglichkeit zu publizieren. Lungenkrank und verarmt, war ihr die Flucht verstellt. Sie wurde am 27. Mai 1942 aus Wien deportiert und sofort nach ihrer Ankunft im Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet (1. Juni 1942).
Ich rate Ihnen sehr: Lesen Sie Lili Grün. Unbedingt. Und verlieben Sie sich in sie. Sie können gar nichts dagegen tun. Es geschieht einfach. Das liegt an Lili und ihrer literarischen Kraft. Sie muss in den Kanon der deutschsprachigen Literatur aufgenommen werden.
Dem Aviva-Verlag gebührt der Verdienst, sie neu zu entdecken. Aber mehr noch, als einfach nur Bücher mit ihren Texten, produziert der kleine Verlag etwas, was auch verloren zu gehen droht: Schöne Bücher nämlich. Mit großzügigen Rändern, mit einem hervorragenden Nachwort von Anke Heimberg, die für die ganze Grün-Reihe verantwortlich zeichnet, und mit umfänglichen Anmerkungen und Erscheinungshinweisen zu den Geschichten und Gedichten. Meine Empfehlung ist: Lesen Sie Nachwort und Anmerkungen vor den Geschichten. Lili muss allein wirken. Und nachwirken.
Lili Grün, Mädchenhimmel!, Aviva-Verlag, gebundene Ausgabe, 192 Seiten, ISBN 978-3-932338-58-8, 18 €