Marquis de Sade im GefängnisRunde Geburtstage und Todestage von Größen der Geistesgeschichte bieten einen willkommenen Anlass, ihr jeweiliges Erbe auszuschlachten und sich politisch und kulturell mit ihrem Andenken selbst zu beerben. Frankreich – mit seiner Selbststilisierung als „grande nation“ der Literatur und Philosophie – ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel. Hier werden nicht nur gebürtige Franzosen, sondern auch francophone und  -phile Autoren, die im Land lebten, kurzerhand gefeiert und offiziell geehrt. Jean-Jacques Rousseau, der zeitlebens stolz auf seine Genfer Abstammung war, ist in der öffentlichen Wahrnehmung längst zum großen Franzosen transformiert worden.

Nur mit einem gebürtigen Franzosen tut man sich noch schwer – dem Marquis de Sade. Er polarisiert nach wie vor die Gemüter in Frankreich. Simone de Beauvoirs Beobachtung (Soll man de Sade verbrennen?), dass es nur wenige Kritiker und Historiker gibt, die ihn weder als Schurken noch als Abgott sehen, ist immer noch zu treffend. Trotz aller Rehabilitationsmassnahmen von der Adoption Sades durch die Surrealisten („Sade als der Surrealist des Sadismus“) bis zur Publikation seiner Werke in den 90er Jahren in der renommierten Reihe Pléiade (beim Verlag Gallimard), einer Art literarischen Ritterschlag – Sade bleibt ein unbequemes Erbe für Frankreich.

In diesem Jahr jährt sich zum 200. Mal sein Todestag – völlig von der französischen Öffentlichkeit ignoriert. Weder die breite noch die Fachöffentlichkeit nehmen groß Anteil an der Erinnerung an jenen Franzosen, den der Verleger Jean-Jaques Pauvert wegen seiner Belesenheit einst mit Karl Marx verglich. Im Gegensatz zu anderen Aufklärern jener Epoche, denen man eine Ehrung zu Teil werden ließ, konnte man sich nicht durchringen Sade zum Gedenken ein Gedenkjahr auszurufen. Selbst die Fachkreise halten sich bedeckt – lediglich eine Fachtagung im September in Paris wird sich mit dem Erbe des göttlichen Marquis beschäftigen. Dem steht eine Vielzahl von Veranstaltungen im  Rousseau- und Diderot-Jahr gegenüber. In diesen Jahren fanden im wöchentlichen Rhythmus Veranstaltungen statt – Tagungen, Ausstellungen, Lesungen u. ä.. Und Sade? Keine Ausstellung, (fast) keine Tagungen, keine öffentlichen Ehrungen …

Die Aussage des Sade-Biographen Guy Endore scheint sich zu bewahrheiten – „Aber Sade? Sade wird nie vergeben werden. Es gibt keine Sade-Straßen und keine -Denkmäler, und es wird auch nie welche geben“ (Satansmesse. Das lasterhafte Leben des Marquis de Sade).

Sade bleibt ein Subversiver, den es schwer fällt zu  vereinnahmen. Sade st jener ewige Unbequeme, als den ihn vor exakt 80 Jahren schon Maurice Heine in seinem Gedicht Saint Sade würdigte. Und das dies in der Verweigerung seiner Ehrung zum Ausdruck kommt – ist vielleicht das grösste Geschenk, was ihm die französische Öffentlichkeit bereiten konnte …