Corona – Gegenwart und Zukunft unter dem Virus

Eine Intervention von Gerald Grüneklee

Der aktuelle Diskurs zeichnet sich durch eine sehr klare Polarisierung aus.t Dies macht es mir nicht nur als Rezensenten schwer, jene „Intervention“ objektiv einzuordnen, sondern verlangt auch dem Autor einiges ab, sich klar von Verschwörungsnarrativen abzugrenzen. Hinzu kommt, dass die hier verfassten Gedanken bereits ein paar Monate bzw. fast ein Jahr alt sind und sie Situation sich seit dem stetig verändert bzw. verschlechtert hat. Man muss sich daher bei manch einem Gedanken davor hüten, vom heutigen Wissen dies in Bausch und Bogen zu verdammen.

 

Das Vorwort für den Band hat der Kabarettist Arnulf Rating (ex-3 Tornados) beigesteuert. Dies endet mit den Worten „In diesem Buch wird nicht nur die Situation klarsichtig analysiert, es werden auch Wege für soziale, gemeinschaftsorientierte Gegenentwürfe aufgezeigt. Das ist gut zum Lesen und gibt Anregungen für Veränderungen.“ (S. 7). Damit beschreibt er pointiert den Anspruch von Gerald Grüneklee, Sozialpädagoge und Antiquar („Der Ziegelbrenner“). Dieser geht selber von einem Versagen der Linken, wobei der diesen Begriff weit fasst, so dass sowohl Mitglieder der gleichnamigen Partei, Linksradikale der unterschiedlichen Couleur und Anarchist*innen darunter subsummiert werden können.

Die von ihm gewählte Sprache ist bewusst überspitzt und scheint mir persönlich an mehreren Stellen über das Ziel hinauszuschiessen. Wenn er auf Seite 8 vor einem „zunehmend totalitärem Handeln“ spricht, ist dies für mich – vor dem Hintergrund des Totalitarismusbegriffes, der in Bezug auf faschistische Regime ursprünglich ausgerichtet war, eine sprachliche Entgleisung. Er ist sich dessen bewusst. Auch andere Stellen sind problematisch formuliert – z.B. die Überschrift „Denunziation als Volkssport“ (S. 27) oder „Mit Corona in die totale Überwachung“ (S. 32).

Sein Ziel – die Darstellung „einer radikal emanzipatorischen Gesellschaftsvision“ teile ich zwar in den Grundlinien, aber die Argumentationsstränge stossen mir mehrfach negativ auf. Gerade in Bezug auf die Zahlenspiele im 3. Kapitel („Wer, wo, wie viele – Epidemische Zahlenkollision“) habe ich meine Schwierigkeiten. Dies beginnt bei der Spitzfindigkeit der Unterscheidung zwischen „gestorben an“ und „gestorben mit“. Das klingt für mich teilweise zynisch, gar menschenverachtend. In seiner Argumentation übersieht er u.a., dass es nicht nur darum geht, sondern auch um die Belegung von Betten, die für Patient*innen gebraucht worden wären bzw. die Verschiebung von Untersuchungen und OPs. Ebenso fehlt es an einer Reflexion über Phänomene wie Long-Covid, die schon eine gewisse Singularität jenes Virus‘ ausmachen. Die Zahlenspiele an sich dürften mittlerweile auch widerlegt sein. Ebenso wie seine Argumentation gegen die Übersterblichkeit. Manche Kapitel wie das 17. über das Impfen hingegen haben vor dem Hintergrund der momentanen Diskussion über die Einführung einer Impfpflicht eine ungeahnte Aktualität.

Ein besonderes Augenmerk legt er auf die Verbindung Kapitalismus, in dem er das eigentliche Problem sieht, und Covid-19, die sich in der Kolonialisierung der Natur und der daraus resultierenden Verbreitung von Zoonosen oder der Situation von Pflegekräften zeigt. Diese Verbindung ist zwar richtig, aber ist für die Beschreibung und Bewertung der aktuellen Situation nur bedingt zielführend.

Die Massnahmen zur Einschränkung der Pandemie werden von ihm aber generell mit Begriffen wie „autoritär“ belegt, was mir auch für die Auseinandersetzung wenig sinnvoll erscheint. Einzelne Argumentationen wie über die „Mediale Monokultur“ (S. 53) kommen ziemlich in die Nähe vom Narrativ der „gleichgeschalteten Medien“. Hier würde ich mir auch eine deutlichere Distanzierung hiervon wünschen. Mehrere Aspekte und Ansätze sind / wären für eine Auseinandersetzung von großem Interesse. Hierzu zählt z.B. das 5. Kapitel, in denen er sich der Thematik über das Foucault‘sche Konzept der Bio-Politik nähert, oder das 11. Kapital über „Das digitalisierende Virus“. Die von Grüneklee gewählte Sprache macht meiner Meinung nach eine notwendige Auseinandersetzung schwierig. Schade, ich denke, dass die provokante Wortwahl die Hürde für eine Diskussion unnötig erhöht. So kommt er auch zu dem Schluß: „Charakteristisch für das Corona-Regime ist die Ausrufung des Ausnahmezustandes, für eine Krankheit, die für die allermeisten Menschen so tödlich ist wie die Grippe“ (S. 139).

 

Maurice Schuhmann

Gerald Grüneklee: Corona – Gegenwart und Zukunft unter dem Virus, Anares (Bremen) und Packpapier (Osnabrück) 2021, 152 S., Preis: 15 €, ISBN: 978-3-935716-79-6.