Hanne Ørstavik zählt zu den bedeutendsten norwegischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Autorin ist eine Meisterin der konzentrieren Schilderung. Ihr erster Roman «Hakk» (Schnitt) erschien 1994.
Nun ist im verdienstreichen Karl-Rauch-Verlag, der für die Werkausgabe von de Saint-Exupéry verantwortlich zeichnet die Übersetzung des Romans «Kjærlighet» erschienen. Ein Roman von 125 Seiten, der viel umfangreicher als seine Seitenzahl ist.
Der Verlag, auch dafür sei Dank, hat ein ordentliches Buch gemacht. Eine Tatsache, die man deshalb hervorheben muss, weil sie selten geworden ist. Nicht nur die bibliophile Bindung und der schön gestaltete Einband des gebundenen Buches sind wunderbar gelungen und dem Inhalt angemessen. Man wird auch «Hurenkinder» und «Schusterjungen» vergeblich suchen. Selbst den völlig aus der Mode gekommenen «optischen Randausgleich», der aus einem Blocksatz erst einen guten Blocksatz macht, hat man nicht vergessen. Ich erwähne diese, leider herausragende und nicht mehr übliche Hinwendung zur ordentlichen Arbeit deshalb, weil ich zeitgleich ein Buch aus dem Ullstein-Verlag (‚Auch wenn ich hoffe‘, so der Titel) las und von ferne beschämt war, dass man gerade bei jenem Buch jegliche Sorgfalt hat vermissen lassen.
Das Buch von Hanne Ørstavik ist aber natürlich nicht nur wegen der handwerklichen Qualität von Satz, Einband und Bindung von auskragender Qualität, sondern in erster Linie wegen der hinausragenden literarischen Fähigkeiten der Schriftstellerin.
In einer wunderbaren Weise obduzierend, die Seelenwelten offenlegend und dabei doch zugleich eng, auf den unbedingt notwendigen Raum beschränkt, schildet Hanne Ørstavik einen Abend, eine Nacht im Leben von Jon und seiner Mutter. Der neunte Geburtstag des Jungen steht bevor. Und jedes Wort des Romans dient dem Ausleuchten der Beziehung von Mutter und Kind, des Seelenlebens beider, als folge man ihnen mit einer Taschenlampe in dunkler Nacht und sähe lediglich, was uns der Lichtkegel zeigt. Das ist wundervoll gelungen. Die Verdichtung, oder, vielleicht das bessere Wort: die Dichtung, die Ørstavik gelingt, macht aus dem belletristischen Prosaband ein Stück brillante Lyrik. Ich wusste nicht, lese ich dieses Buch seines Inhalts, also der Geschichte, halber oder wegen der Schönheit der Wörter und ihrer Musikalität. Vermutlich war es beides. Für die Übersetzung aus dem Norwegischen zeichnet Irnina Hron verantwortlich. Und wie gut das Werk Ørstavik im Original auch immer gewesen sein mag: Hrons Übersetzung schafft einen deutschen Text von wirklich hoher literarischer Exzellenz.
Dieses Buch ist aber auch deshalb von einer literarischen Bedeutung über sich selbst hinaus, weil die Sprache, die Hanne Ørstavik so souverän einsetzt Wege aufzeigt, die nun wieder festgefahrenen Erzählarten aufzubrechen. Und insofern ist sie, wenn auch nicht der Art, sondern des Impetus nach, Handke und vielleicht auch mir, sehr nahe. Der Verlag vergleicht das Buch mit David Lynchs ‚Mulholland Drive‘, einem Spielfilm, bei dem Lynch Regie geführt hat und das Drehbuch geschrieben. Ich halte das aus mehreren Gründen für falsch. Denn auch wenn das Ende des Buches in einen Interpretationsraum leitet, der je nach seiner Ausfüllung durch den Leser das zuvor gelesene neu interpretiert, so ist doch der Versuch der Verthrillerung von «Liebe» untauglich. Es kommt in diesem Buch nur auf drei Stützsäulen an: Die große Sprache, die gelungene Verengung auf das Wesentliche, die Seelenschau. Weiterer Deutungsversuche bedarf es durch Verlag und Kritik nicht. Das soll tun, wer liest und zwar nach eigenem Gusto. Denn genau das ist ja das Großartige in der Verengung, die Ørstavik geschaffen hat. Der kleine Betrachtungsraum, die enge Bühne der Handlung, sie ist zugleich offen für jede Vision, die sich der, der dieses Buch erliest schaffen will.
Hanne Ørstavik hat 2004 den Brageprisen der Norwegischen Buchpreisstiftung erhalten, der von der Stiftung gemeinsam mit dem norwegischen Verlegerverband vergeben wird. Benannt ist der Preis nach «Bragi», den nordischen Gott der Dichtkunst. Lassen Sie mich abschließend sagen: Diesen Preis hat die Schriftstellerin völlig zu recht erhalten und ich bin mir sicher, dass mir Bragi und alle anderen Götter zustimmen.