Die grausame Lust. Sadomasochismus als Ideologie
Seit ein paar Jahren nimmt sowohl die wissenschaftliche mit dem Themenkomplex „Sadomasochismus“ als auch die kulturelle Auseinandersetzung zu. BDSM ist – abgesehen einzelner Praktiken – mittlerweile eine weitgehend akzeptierte Form der Sexualität, die auch gerne als Ergänzung zum schnöden Rein-Raus-Spiel in Ratgebern empfohlen wird. Auch die Vorurteile gegenüber Sadomasochist_innen, die noch vor ca. zwanzig Jahren deutlich spürbar waren, haben nachgelassen. Vor diesem Hintergrund wundert mich die Ausrichtung jener Polemik – „Die grausame Lust“ – von Ulrike Heider, die zumindest von der Themenstellung aus der Zeit gefallen zu sein scheint.
In einer gewissen Ambivalenz schreibt sie im Vorwort zu „Die grausame Lust“:
„Dass Sadomasochisten, die einvernehmlich handeln, nicht diskriminiert werden dürfen, sondern auch akzeptiert und geschützt werden müssen, schien mir selbstverständlich. Die Frage aber, warum die Vorstellung von einer mit Gewalt gepaarten Sexualität und die Nostalgie nach der Sklavenhaltergesellschaft so hartknäckig sind, trieb mich um“ (S. 12).
Bislang hatte ich Ulrike Heider als Autorin von Texten wie „Vögeln ist schön“ über die sexuelle Revolution oder ihre Autobiographie „Keine Ruhe nach dem Sturm“ als eine Verfasserin sehr lesenswerter titel wahrgenommen – und habe auch in vielen politischen Aspekten mit ihr persönlich Überschneidungen und Anknüpfungspunkte, aber das vorliegende Werk ändert meine Sicht auf sie ein Stück weit.
Ausgangspunkt für ihre z.T. sehr polemisch anmutende Untersuchung ist der göttliche Marquis de Sade und seine direkte Rezeptionsgeschichte, die sie im ersten Teil des Buches unter dem Titel „Der Namensgeber“ nachzeichnet. Als Rezipient_innen werden u.a. Georges Bataille, Piere Paolo Pasolini, Peter Weiss, Ernst Jünger, Michel Foucault und Simone de Beauvoir angeführt. Die sexualwissenschaftliche Diskussion klammert sie komplett aus. In der Darstellung der einzelnen Zugänge zu seinem Werk finden sich eine Reihe kleinerer Ungenauigkeiten und Fehler, aber das ist hier zweitrangig.
Interessanter ist hingegen, dass sie die Verbindung von Marquis de Sade und (konsensuellem) BDSM gar nicht problematisiert. Mal Hand aufs Herz, wie viele BDSMler_innen haben sich wirklich tiefer gehend mit ihm beschäftigt…. In Szenepublikationen wird dann schon immer eher auf Leopold von Sacher-Masoch („Venus im Pelz“) akquiriert, dem wir den klassischen „Sklavenvertrag“ verdanken. Dieser Autor findet aber in den Ausführungen von Ulrike Heider keinerlei Beachtung. Ebenso wenig geht sie darauf ein, dass der von Krafft-Ebing um 1864 pathologisierte Begriff „Sadismus“ etwas ist, von dem sich die Szene abgrenzt, und dass erst fünfzig Jahre später jener Begriff, den wir verwenden, nämlich Sadomasochismus geprägt wurde.
Im zweiten Teil ihres Buches geht sie dann auf das Thema „SM und BDSM“ ein. Auch hier sticht ins Auge, dass sie z.B. keine Abgrenzung von klassischem Sadomasochismus und D/s-Beziehungen vornimmt und Beides in einen Topf schmeißt. Für eine Analyse des Themenkomplexes wäre dies ja wohl zu erwarten gewesen. Ähnlich wie im ersten Teil der Arbeit findet sich eine sehr interessante Zusammenstellung von Fakten hier. Sie zeichnet unterschiedliche Entstehungshintergründe der BDSM-Subkultur nach – von der heterosexuellen Eulenspiegel Society, über die US-amerikanischen Leathermen und die lesbische Gruppe Samois bis hin zur community-Seite Sklavenzentrale – und kombiniert es mit einer Literaturanalyse von wissenschaftlichen Studien (u.a. „S-M – The last taboo“), Szenehandbüchern (u.a. Grimmes „SM-Handbuch“ oder „Die Wahl der Qual), den Strafbüchern von Woschofius und Romanen wie „Dezemberkind“ von Leander Sukov. Sie, die sich als Vanilla am Anfang ihrer Ausführungen zu erkennen gibt, hat dabei einen wirklich eine sehr umfangreiche, wenn auch nicht immer systematische Literaturrecherche betrieben. Eine Reihe neuer und wichtiger Publikationen aus dem Kontext, aber auch ältere, wegweisende Studien wie z.B. „Sadomasochismus: Szenen und Rituale“ (Rowohlt 1993) werden nicht rezipiert. Vor diesem Hintergrund ist es zeitweilig etwas unsystematisch. In ihrer Argumentation spart sie dabei nicht an Polemik. So betitelt sie das Kapitel über Handbücher mit den Worten: „Die Ratgeber – Verharmlosungen, Verheißungen und die SM-Religion“. Manche Schlussfolgerungen wie z.B. in Bezug auf Matthias Grimme über den sie schreibt: „Grimmes Begriff von Sadomasochismus wurzelt wie bei fast allen, die sich je zum Thema geäußert haben, in der Annahme einer grundsätzlichen Aggressivität und Destruktivität des Menschen.“ (S. 189) halte ich für sehr gewagte Auslegungen und Verallgemeinerungen. Das zeigt sich dann auch im Fazit ihrer Untersuchung, wo sie der BDSM-Szene u.a. „Elitismus“ vorwirft, den sie bereits im aristokratischen Denken des Marquis de Sade angelegt sieht.
Das Werk hinterläßt bei mir einen sehr zwiespältigen Eindruck. Einerseits ziehe ich meinen Hut vor dem Aufwand, den sie betrieben hat, die Literatur für jene Studie zusammenzusuchen. In Bezug auf die Ressourcen ist ihr Text sicherlich ein guter Steinbruch für Forschungen auf diesem Gebiet, aber gleichzeitig scheint sie sich an mehreren Stellen zu verrennen. Einige ihrer Ausführungen sind mit Vorsicht zu geniessen. Wenn Sie z.B. mit sechs Seiten Umfang fast schon überproportioniert sich dem faschtoiden Autor Ernst Jünger widmet, der lediglich in der ersten Fassung seines surrealistischen Werkes „Das abenteuerliche Herz“ auf Marquis de Sade eingeht, aber bereits bei einer überarbeiteten Neuauflage in den 1930er Jahren diese Kapitel komplett strich, ist es wohl eher auf politisches Kalkül als auf eine objektive Nachzeichnung der Rezeptionsgeschichte zurückzuführen.
Ich hätte mir insgesamt etwas mehr Distanz und weniger Polemik gewünscht, denn einzelne Aspekte halte ich durchaus für diskussionswürdig. In der hier dargebotenen Form stösst sie aber Aktivist_innen der Szene sicherlich eher vor den Kopf.
Ulrike Heider: Die grausame Lust. Sadomasochismus als Ideologie, Schmetterling Verlag Stuttgart 2023, 242 S., ISBN: 3-89657-033-1, Preis: 19,80 €.
Maurice Schuhmann