1597_LRückblick. Einblick.

Karsten Krampitz ist ein guter Schriftsteller. Einer der ohne neue deutsche Hysterie und die schreckliche biedermeierliche Bräsigkeit, die wieder in Mode gekommen ist, erzählen kann. Das ist eine Gabe, die man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Er hat in seinem Roman „Wasserstand und Tauchtiefe“ gezeigt, mit wieviel Humor er Zorn aufs Blatt bringen kann. Krampitz ist heute das, was Walser in den sechziger und siebziger Jahren gewesen sein mag und was Böll bis zum Tode war: einer der erzählen muss aus Zorn über die Welt und ihren Zustand und der zugleich, wie Böll, stets auch mitleidet.
Krampitz ist studierter Historiker. Er hat über das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR promoviert. Er stammt aus der DDR — eine Herkunft, die man seinem Werk anmerkt. Seine große literarische Begabung wirkt auch in dieses Sachbuch hinein, welches er in einer schönen Sprache verfasst hat. Erkenntnisgewinn mit literarischem Lesegenuss ist eine großartige Sache.

„1976. Die DDR in der Krise“ hält sich zwar an den im Titel vorgegebenen Zeitrahmen, aber selbstverständlich wird nicht versäumt die Entscheidungen der staatlichen Organe und der SED als Resultate geschichtlicher Entwicklung darzustellen. Und ebenso klar ist es, dass Krampitz nicht versäumt auf Resultate der Handlungen des Jahres 76 auf die nachfolgenden Jahre hinzuweisen. Es ist eine handlungsbezogene Fokussierung sich auf 1976 zu konzentrieren, keine Zuspitzung, keine Verengung.

Die Wahl des Jahres ist dem Selbstmord Brüsewitzens geschuldet,  Dieser über das stille Sterben hinaus erweiterte Selbstmord des tief gläubigen, kauzigen und auf egozentrische Art sektiererischen Kirchenmannes ist schon in den vergangenen Publikationen immer ein bedeutender Teil im Werk Krampitz' gewesen. Brüsewitz ist auch der Ankerstein seiner Promotion. Und selbstverständlich räumt Krampitz auch in „1976. Die DDR in der Krise“ der Selbstverbrennung des Pfarrers in Zeitz einen erheblichen Raum ein. Zurecht! Denn an „dem Fanal von Zeitz“ hängt Karsten Krampitz eine vielzahl von Informationen über die Situation des Jahres an, nutzt also die Entwicklung Oskar Brüsewitz in den Selbstmord — die platzangemessen geschildert wird — gleichsam als Träger für die Darstellung anderer Probleme und Entwicklungen in der DDR. Die Ausbürgerung Biermanns wird da eher der Vollständigkeit halber angeführt, sowohl was den Umfang im Buch, als auch die spürbarere Distanz des Historikers vom Betrachtungsgegenstand angeht. Krampitz ist nahe beim Selbstmörder, aber weit vom Selbstdarsteller. Und zwar ohne sich mit dem Pfarrer gemeinzumachen oder gar eine Art von Fraternisierung zu betreiben. Nein, das nicht. Doch merkt man dem Autor eine emotionale Näherung an, die aus einem mitfühlenden Willen verstehen zu wollen herrührt, wie ich meine.
Gerade dieses Mitfühlen, auch aus eigener Betroffenheit ist es, was, auch an anderer Stelle, dieses Buch zu mehr als nur einer wissenschaftlichen historischen Betrachtung macht. Krampitz analysiert die DDR weder mit der Kühle entfernter Geschichtsbetrachtung, noch mit dem Ziel den vergangenen Staat delegitimieren zu wollen (wie es meiner Meinung nach in unwissenschaftlicher Weise immer wieder Hubertus Knabe versucht). Nein, Krampitz schafft es als Wissenschaftler und als Schriftsteller ein stimmiges Bild der DDR zu zeichnen, das Lebenswirklichkeiten und politische Situationen darzustellt, ohne mit Häme postmurum den vergangenen zweiten deutschen Staat desavouieren zu wollen.


Es geht ihm um die für ihn wahre Schilderung der Verhältnisse. Die Geschichtswissenschaft ist selbstverständlich eine Wissenschaft, die der Interpretation der Forscher unterliegt. Wahrheit ist nicht die Wirklichkeit selbst, sondern die durch die persönliche Reflexion geschaffene Empfindungsform von Wirklichkeit. Krampitz Wahrheit der DDR ist eine, die sich aus seinem Humanismus, seiner Solidarität mit den jeweils Schwächsten und seinem Willen zur individuellen Freiheit und seinem Erleben der DDR ergibt.
Auch deshalb hat dieses Buch in den Kreisen jener Linken, die Nostalgie und Verklärung für erfolgreiche Taktiken im Klassenkampf halten, erhebliche Kritik hervorgerufen. Dabei hätte dort, wo man doch stets den Materialismus und die Dialektik hochhält, ein durchaus materialistisches und dialektisches Werk über ein Jahr aus der Geschichte der DDR Zustimmung finden müssen.
Der Kollege Günter Benser hat im Neuen Deutschland vom 15. April 2016 eine Rezension geschrieben, die geradezu als Lehrstück für reflexhafte Gegenkritik gelten kann. Der stete Hinweis auf die Spieräume, die die DDR in der Konstellation der Blöcke gehabt hätte (oder auch nicht), das Insistieren, es müsse doch immer auch die Idee von einer besseren, sozialistischen Gesellschaft als reiner Formation mitgedacht werden, hat eine bedauerliche Tradition. Auch bei Benser fehlt beides nicht. Im Grunde ist es eine kleinbürgerliche Attitüde. Forderungen wird gestellt, die ansonsten nicht gestellt wird. Es soll damit eine Verengung geschaffen werden, die bei der geschichtlichen Forschung sonst nirgendwo stattfindet. Was eigentlich gemeint ist, ist, dass der Historiker bei seiner kritischen Würdigung gleich auch die politische Entschuldigung mitzuliefern hätte, damit das apologetische Bild sauber bleibt. Das wäre Geschichtsklitterung.

Benser schreibt unter anderem „Schwerer wiegt jedoch die Begrenztheit des Panoramas insgesamt. Noch immer gilt, was Friedrich Engels als wichtige Erkenntnis seines Freundes Karl Marx hervorgehoben hat, nämlich »daß die Menschen vor allem essen, trinken, wohnen und sich kleiden, also arbeiten müssen, ehe sie um die Herrschaft streiten, Politik, Religion, Philosophie usw. treiben können«. Doch die Arbeitswelt und die ihr zu Grunde liegenden Produktionsverhältnisse sind Krampitz keiner Betrachtung wert. Haben die herausgegriffenen Fälle die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich so bewegt, dass ihr Verhältnis zur DDR dadurch vorrangig bestimmt wurde?“

Dieser Absatz ist ein intellektueller Schwächeanfall. Denn es geht ja nicht um die Frage, ob die Menschen in der DDR versorgt und behaust waren, aber gar keine Lust auf Debatte gehabt hätten. Krampitz geht es in seinem Buch erkennbar darum, dass der hier offenbare Fehlschluss Bensers auch der Fehlschluss in der Innenpolitik der DDR (und anderer sozialistischer Staaten) war: Nämlich eine unterschiedliche Wertigkeit von sozialer Versorgung und Freiheitsrechten anzunehmen. Beides aber hängt, wie Marx und Engels unmissverständlich schreiben, zusammen. Man muss essen, trinken, wohnen usw. um dann um die Herrschaft streiten zu können. Man muss um die Herrschaft streiten, um materiell nicht unterzugehen. Die bensersche Unterstellung, dass die Arbeitswelt Krampitz keine Erwähnung wert wäre, stimmt so ebenfalls nicht.  Aber schon der Umfang des Werks macht natürlich eine umfängliche Beschäftigung mit der Lage der der Arbeiter in der DDR nicht möglich; und es war ja auch nicht die Intention. Von kolossaler Albernheit ist die Frage, ob die Fallbeispiele Krampitz‘ von individueller und dazu noch enormer Wichtigkeit für die Einwohner der DDR waren. Wurde das Leben eines Fischereiarbeiters an der Ostseeküste durch die Selbstverbrennung Brüsewitz‘ vorrangig bestimmt? Vermutlich nicht. Kommt es darauf an? Nein! Es geht um Tendenzen und Karsten Krampitz hat es verstanden, diese Tendenzen in adäquater Art zu schildern. Dass dabei weder eine Lobhudelei auf die DDR herausgekommen ist, noch eine Geschichtsklitterung über das Leben in der DDR ist ein großes Verdienst des Autors.

Karsten Kampitz hat mit diesem Buch eine Tür zur Diskussion um die DDR und die Lebensbedingen aufgestoßen, durch man nur noch gehen muss. Der Erkenntnisgewinn, auch hinsichtlich dessen, was man für die Zukunft wollen soll, wird um so größer sein, um so weiter man sich vom Apologetentum bei der Geschichtsbetrachtung entfernt. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet dieses Buch.

Karsten Krampitz, 1976. Die DDR in der Krise, Broschur, 176 Seiten, Preis: 18,00 €, ISBN: 9783957321459
http://www.verbrecherverlag.de/book/detail/820

Foto: Amrei-Marie