Die Frage muss erlaubt sein: Gibt es noch etwas, dass man getrost als „Literaturbetrieb“ bezeichnen kann? Gibt es so eine Institution, die sich in das sonstige Marktgeschehen wahrnehmbar einordnet? Von den 8900 Buchhandlungen, die es vor zwei, drei Dekaden noch gab, sind 3500 übrig geblieben und die meisten von Ihnen ermöglichen ihren Beschäftigten und Betreibern allenfalls ein Leben am Existenzminimum. Die Zahl der Verlage steigt ständig an, was an den neuen Fertigungsmöglichkeiten liegt, die Zahl der Verkaufsstellen nimmt ab. Auch gestandene Verlagsunternehmen mit Jahrzehnte alter Tradition beginnen zu bröckeln, viele suchen ihr Heil darin, sich vollständig der Trivialliteratur zu widmen: Vampire, Mittelalter, Werwölfe und Chicklit. Der Anteil Amazons am Verkaufsgeschehen „Buch“ ist übrigens überschätzt. Das Unternehmen verdient sein Geld mit Elektronik und anderem, was sich außerhalb der Sphäre der Literatur befindet, zu allererst.
Die Anzahl der Feuilletons ist in den letzten dreißig Jahren entscheidend zurück gegangen. Das bedeutet – denn im Moment ist es noch so, dass das gedruckte Wort mächtiger als das virtuelle ist –, der Platz für Kritik, also Hinweis und Rat, ist geschrumpft. Und zwar in einem dramatischen Maße. Vermutlich hat ein durchschnittlicher Verein der Fußballbundesliga mehr Mitglieder, als der Verein, der als Literaturbetrieb gewertet werden kann.
Zu diesem Betrieb gehören nämlich weder alle Kritiker noch alle Schriftsteller. Und die Meinungsverbreitung hat sowenig, wie die darin begründete Wahrnehmung zu tun mit Verkaufszahlen und Leserrezeption. Wenn man sich die Bestsellerliste des Spiegel vornimmt und sie vergleicht mit der Liste der bestverkauften Bücher bei Amazon, wird man feststellen: Da gibt es an Gemeinsamkeit nicht viel. Beim Spiegel führt Kehlmann, bei Amazon Adler-Olson. Kehlmann kommt unter den Top 20 gar nicht vor. Ganz offenbar gibt es also den Literaturbetrieb nicht. Es gibt Literaturbetriebe. Und offensichtlich gibt es einen Unterschied beim Kaufverhalten. Da sind jene, die in ihren Buchladen laufen und die, die sich Bücher bei Amazon und Consorten bestellen; da sind jene, die sich an den Feuilleton orientieren und jene, die sich ihre Informationen aus den Blogs oder sonstwoher besorgen.
Es besteht, neben der Handvoll Feuilletons ein ganzer Sack von Blogs, die sich vornehmlich mit „Genre-Literatur“ (historsche Romane, Chicklit usw.) beschäftigen und mehr oder weniger gut darstellen, was es Neues in den von ihnen bevorzugten Bereichen gibt. Sie wirken, bis auf sehr wenige Ausnahmen, nicht in die universitäre Wahrnehmung von Büchern, tragen nicht zum Kanon der sogenannten Hochliteratur bei (ein historisches Problem und Phänomen der deutschsprachigen Literatur), dienen jedoch sehr wohl dazu, den Literaturmarkt offen zu halten. Der Markt aber ist keinesfalls das, was als Literaturbetrieb bezeichnet wird.
Zu Zeiten, als der Literaturbetrieb fast ausschließlich über die Rezeption in den Feuilleton stattfand (und in geringerem Maße über politische Zuordnungen), bedeutete die Wahrnehmung eines Autors nicht, dass er ernstlich überleben könnte. Und letztlich schreiben viele ja für den Nachruhm. Sie wollen gern in dreihundert Jahren noch bekannt sein. Aber sagen Ihnen, wenn Sie nicht gerade jemand sind, der sich täglich oder gar hauptberuflich mit Literatur beschäftigen die Namen Kotzebue oder Lucy M. Montgomery etwas? Kotzebue schrieb 220 Bühnenstücke, wurde u.a. von Goethe aufgeführt (87 Stücke mit 600 Vorstellungen) und war einer der erfolgreichsten Dramatiker seiner Zeit. Er war zu seiner Zeit im Literaturbetrieb recht wohl gelitten. Aber, wie meine Oma gesagt hätte: Genutzt hat es nichts. Das trifft auch auf den Schriftsteller Sacher-Masoch zu, von dessen Werk nur noch die „Venus im Pelz“ bekannt, aber selten gelesen, ist. Seine zahlreichen anderen Werke, darunter die, welche zu seiner Zeit seinen Ruhm begründeten, sind vergessen.
„Moby Dick“ wurde fünfzig Jahre lang mit schlechten Kritiken und Nichtwahrnehmung abgestraft, bis sich die Sichtweise änderte. Man hielt das Werk, das heute zur Weltliteratur gehört, für ein „unausgeglichenes Werk von übertriebener Länge“, in teils bemühtem Stil.
Dem Literaturenthusiasten wird Christian Fürchtegott Gellert bekannt sein, aber dem normalen Leser kaum. Dem mit Literatur intensiv befasste Kritiker, Wissenschaftler oder Herausgeber wird Paul Heyse etwas sagen, der Mann hat den Literaturnobelpreis erhalten – 1910, als erster Deutscher –, aber über die kleine Schar derer, die den sogenannten Literaturbetrieb darstellen hinaus, wird er unbekannt sein.
Da schmort also eine Gruppe von Menschen im eigenen Saft: Liebhaber von Literatur oder nur ihre Sachwalter, Menschen, die in ihn hinein wollten und es geschafft haben und solche, die halt hineingerieten, wie andere in die ökologische Gemüsegärtnerei oder die Philatelie. Ein kleiner Betrieb, einer, der von der Sehnsucht derer lebt, die von ihm liebgehabt werden wollen, wichtig als Bewahrer, so gut es eben geht, und ständigen Irrtümern unterworfen. Was er heute noch verwirft, kann ihm schon morgen integraler Bestandteil sein. Man muss Geduld mit ihm haben und sich an die Augsburger Puppenkiste erinnern. Der Literaturbetrieb ist ein Scheinriese, je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er.