Am Bergsee sitzt sie manchmal. Du kommst dazu von Zeit zu Zeit. Setzt Dich neben sie auf die Bank. Unterbrichst Deine Wanderung hinauf zum Joch. Und Sie streicht ihren Kittel glatt. Und dann sagt sie, was sie immer sagt. Und erinnert Dich mit dem Satz, "Früher, daran erinnere ich mich gern, bin ich um den See gelaufen. Oft. Nicht jeden Tag natürlich, dazu war zu viel Arbeit. Jeden Tag konnt‘ ich nicht. Aber Sonntags, nach der Kirch‘, da bin ich immer einmal um den See. Sommers, wie Winters. Waren ja auch nicht im Urlaub. Mein Mann und ich, die ersten Jahre, die erste Zeit. Das war in den Fünfzigern. Da sah es hier aus. Mein Gott! Strom hatten wir keinen und kein fließend Wasser. Die unten im Dorf schon. Da hingen die Leitungen für den Strom über die Straßen. Von Haus zu Haus. Wie Spinnenwegen hat mein Mann immer gesagt. Aber hier oben, auf halben Weg zum Einstieg, wir net. Wir haben bei Petroleumlicht gesessen auf Nacht. Und hatten eine Pumpe in der Küche. Richtig an der Wand eine Pumpe. Auto hatten wir keines damals. Hatten wir erst so um dreiundsechzig, vierundsechzig. Einen Puch. So einen kleinen. Einen 700. Sind wir bis nach Bozen mit gefahren. Über die Alpen. Hat der alles mitgemacht. Und Anfang der Siebziger, oder wars doch schon neunundsechzig, da haben wir Strom bekommen und ein paar Jahre später hat mein Mann ein kleines Pumpwerk neben dem Haus errichtet fürs Wasser. Da war der Hof noch halb so groß. Personal hatten wir eine Magd und einen Knecht. Nicht wie heut‘. Einen Traktor hatten wir. Gebraucht gekauft. Musste alle naselang repariert werden. Und dann der Preisverfall und die Subventionen weniger auch. Wollten wir schon aufgeben. War ja nur ein kleiner Hof. Aber mein Mann und ich haben uns dann doch nicht durchringen können. Die Rente ist zu niedrig um aufzuhören und verkaufen — keiner will’s. Zu beschwerlich hier oben. Und zu klein für Touristen das Haus, aber unter Denkmalsschutz. Da muss man immer weiter machen.", daran, dass Du Dir einen See suchen solltest in den nächsten paar Jahren, einen an dem Du sitzen kannst und erzählen, wie es war in den Achtzigern und Neunzigern. Später, wenn die Stunde auf der Bank ist, wie die Pause in einem Theaterstück, in dem Du alle Rollen spielst unter einem schlechten Regisseur.
About The Author
Leander Sukov
Leander Sukov ist Schriftsteller und Publizist. Er ist der Chefredakteur von "Kultur und Politik". Sukov ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und war dort von 2019 bis 2021 als Vizepräsident für "Writers in Exile" zuständig. Er gehörte von Mai bis Oktober 2022 dem Interimsvorstand als Schatzmeister an. Als stellv. Bundesvorsitzender des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist für den Kontakt zu politischen Stellen und für "Worte gegen Rechts" zuständig. Er ist Netzaktivist seit es das Internet gibt und war davor im Bereich der DFÜ auf den sog. Brettern unterwegs. Anfang der Achtziger war er in der deutschen Datenverarbeitungsschule engagiert, deren Schirmherr Konrad Zuse war. Sukov ist Mitglied der SPD. Er ist Mitglied von ver.di und im Bezirksvorstand Würzburg-Aschaffenburg des Fachbereiches 8. Er ist Generalsekretär der Louise Aston Gesellschaft.
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