Wir saßen hinterher bei Mikis, gleich neben den Messehallen – ein Kellerlokal in der Karolinenstraße. S. und ich kamen aus dem Audimax, waren durch den Dammtor gelaufen. Schweigsam. Da war der Elfte September noch jung gewesen. Und man hatte im Audimax ein Solidaritätskonzert für Chile veranstaltet. Winter wars, sterbender Winter, kurz vor dem Frühjahr. Kalt war es. Ich trug einen Afghanenmantel, strich mit den Wangen über das warme Fell, trank Samos, aß, küsste S., wischte das imaginierte Blut der Genossinnen und Genossen immer wieder vom Kneipentisch. Wir sprachen uns Hoffnung zu. Sprachen von Partisanen, von Stadtguerilla, davon, dass das mörderische Generalsgespenst bald verjagt wäre und der Spuk vorbei.

Die WELT berichtete in jenen Tagen von der Reise einer deutschen Parlamentarierdelegation nach Chile. Von Spänen, die fallen, wenn man hobelt, die Späne waren unsere Genossen, vom Stadion und der Wetterlage. Ich bekam die WELT an jedem morgen auf den Schreibtisch, an dem ich mein Schülerpraktikum absaß. Wir waren ganz voll Hoffnung, S. und ich und die anderen, ganz und gar voll von Hoffnung. Sozialismus und Demokratie. Alles würde gut werden. Für uns. Für alle. So lange dauerte es dann noch, bis Chiles blutige Mörderbande abtrat. So viele tote, vergewaltigte, gedemütigte Genossinnen und Genossen lang. Das ist der Klassenkampf. Man darf nicht vergessen, dass der Normalfall erstmal der Kapitalismus ist — nicht die Demokratie. Und der wählt sich die Form, die ihm behagt. Das ist oft die Gewaltherrschaft. Wie in Chile und zuvor in Griechenland, wie zwischen Dreiunddreißig und Fünfundvierzig in Deutschland. Der chilenische Faschismus hat aus Chile ein Labor des Neoliberalismus gemacht. Geschützt von Bajonetten und Foltercamps. Begleitet von Wirtschaftswissenschaftlern.

Vor mehr als 10 Jahren schrieb ich dann dieses Gedicht. Ein Gedicht gegen das Vergessen, gegen das Überlagern. Ein Gedicht auch als Mahnmal für unsere Genossinnen und Genossen, deren Namen verloren gegangen sind, für die vielen, die aus Hubschraubern in den Ozean gestoßen wurden. Es ist über einhundert Mal abgedruckt worden, in linken Zeitungen und in Schülerzeitungen, auf Flugblättern. Ich habe es sicher genauso oft auf Bühnen gesprochen.

Der Elfte September

Er sagt: Es ist nicht vorbei.
Nein, antworte ich
…vorbei ist es nicht
Der Elfte September, sagt er
der Elfte September ist nicht
vorbei.
Recht hast Du, er lebt
antworte ich. In unseren
Herzen, da wird
der Elfte September leben
Und die Flugzeuge.
Ja, sagt er – und die Flugzeuge.
Und die Bomben, sage ich.
Welche Bomben, fragt er
Die Bomben, die an
den Flugzeugen hingen
bis zum Abwurf
sage ich.
Da waren keine Bomben
sagt er. Die Flugzeuge waren
die Bomben.
Nein, antworte ich. Sie
warfen sie
ab.
Damals, am Elften September
in Santiago de Chile
als die Flugzeuge den
Prasidentenpalast bombadierten
als Allende ermordet wurde
und die vielen anderen.
Ach, sagt er, den
Elften September meinst Du.
Ja, antworte ich,
den Elften September meine ich.