Bochum: Intendant Johan Simons gelingt beeindruckende Bühnenversion
Von Werner Streletz
Eines langen Tages Reise – eigentlich in eine ferne Vergangenheit: Und trotzdem bleiben die Figuren auf der Bühne seltsam vertraut, zugänglich. Im Bochumer Schauspielhaus war eine siebenstündige Inszenierung von Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasow“ zu sehen: Theater, wie es in dieser Opulenz (und Dauer) wohl selten zu erleben ist. Intendant und Regisseur Johan Simons hat damit mehr als nur ein Ausrufezeichen gesetzt. Die Handlung ist vielgestaltig und benötigt gedruckt rund 1200 Seiten. Der Roman wie naturgemäß auch die Bühnenversion kreisen nicht unwesentlich um die Frage, ob es einen Gott gibt und wenn nicht, ob dann, ohne eine transzendentale „Aufsicht“, von moralischen Bedenken befreit, den Menschen alles erlaubt ist. Ein Sinnsuche, wie sie auch Ingmar Bergman in seinen Filmen umgetrieben hat. – Zeitlos gleichwohl. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Geschehensgeflecht wie im Roman nicht auf eine Kurzform einzudampfen ist. Und Regisseur Johan Simons lässt sich denn auch Zeit, um das Figurentableau zu entwickeln. Besonders einprägsam im durchweg überzeugenden Ensemble: Pierre Bokma als Vater Karamasow. Einen vor sich hin summenden Samowar sucht man auf der Bühne vergebens. Stattdessen ein kühl-weißes Bühnenbild, das „Mütterchen Russland“ vollends vergessen lässt und die zwischenmenschlichen Probleme um Geld und Gefühle auch für heutige (Zuschauer-) Gemüter greifbar werden ließ. Auf Monitoren unterschiedlicher Größe ist (wie in einer Vorausschau) die Arbeit in jener Küche zu sehen, in der sich die Inszenierung nach dem Umzug des Publikums in die Kammerspiele fortsetzen wird. Die besondere Herausforderung dieses überlangen Theaterabends: Er entfaltet sich auf beiden Bühnen des Bochumer Schauspielhauses: Wobei das Publikum über die Hauptbühne durch das ganze Gebäude gehen muss, um den zweiten Spielort zu erreichen – verbunden mit einem normalerweise verschlossenen Einblick ins Innere des Theaters. Diese „Brüder Karamasow“ sind kein schlichter Theaterabend, sondern – inklusive eines Dinners im „Oval Office“ – ein ganz besonderes Ereignis, ein vielgestaltiges Erlebnis. Und ein Risiko: Es stellt sich die Frage, ob sich diese Marathon-Inszenierung nach dem erfolgreichen Premieren-Wochenende auch im normalen Repertoire-Betrieb bewähren wird. Ich jedenfalls wünsche es dieser gelungenen künstlerischen Kraftanstrengung des Intendanten Johan Simons und seines Ensembles.