Neulich habe ich etwas Merkwürdiges gelesen. ‚Die Freuden des Alters‘ hat einer einen Artikel genannt – die Freuden des Alters. Dass ich nicht lache. Die Freuden des Alters. Welch eine unwürdige Beleidigung.

Als gäbe es Freude über das Altwerden. Ich bin alt. Ich freue mich nicht darüber. Weiß der, wie es ist, in der falschen Zeit jung gewesen zu sein? Für ihn war´s vielleicht nicht die falsche. Für ihn vielleicht. Aber für mich. Zehn Jahre jünger als ich ist der. Siebzig. Zehn Jahre, die zählen. Wie Goldbarren oder wie Bleistücke.

Als ich Zwanzig war, 1942, als ich hätte lieben können, und lachen, und glücklich sein und ruhig und sicher und meinetwegen ängstlich, aber nicht voll Todesangst, da haben die Städte gebrannt und ich habe Menschen getötet, weil ich zu feige war, mit mir selber Schluss zu machen oder die Fronten zu wechseln oder irgendetwas zu tun, um keine Menschen zu töten.

Als ich Zwanzig war, da haben wir alle, da haben alle, die so alt sind wie ich, Juden vergast und Zigeuner, da haben wir Kommunisten erschlagen und Sozialdemokraten und Homosexuelle. Da haben wir alle, alle, die so alt sind wie ich, Blut und Blei regnen lassen über fremdem Land. Das war als ich jung war.

Und als ich Fünfundzwanzig war, da haben wir Hunger gehabt und Durst nach Freude, aber es gab keine Erlabung. Da haben wir die Strassen und die Städte, die Flüsse und die Häfen vom Schutt unserer Verbrechen gereinigt. Wir aber sind schmutzig geblieben. Wir haben die Erinnerung an unsere Verbrechen mit dem Schutt und den Leichen aus unserem Gedächtnis schaufeln wollen. Doch wohin, wohin nur…

Wenn ich durch Hamburg gehe, dann erinnere ich mich. So als ob es gerade erst geschehen ist. Erinnere ich mich an die Juden, die auf der Moorweide zusammengetrieben wurden und ich erinnere mich an die brennende Stadt, ich erinnere mich, obwohl ich mich nicht erinnern will. Nein, nein. Ich habe keine Angst vor der Erinnerung an die Taten, deren Täter auch ich war.
Ich will nicht daran erinnert werden, dass das meine Jugend war. Denn dann erinnere ich mich auch daran, dass ich alt bin. Und manchmal vergesse ich das. Dann bin ich nicht mehr alt. Dann fühle ich mich ohne Zahl. Dann will ich nicht zurückgerufen werden in die Nummer meiner Jahre. Will nicht. Will nicht. Will nicht. Hört Ihr. Ich will nicht alt sein und darum darf ich mich nicht daran erinnern, jung gewesen zu sein, damals jung gewesen zu sein. Denn meine Jugend, ihre Lage in der falschen Zeit, hat mir mein Leben gestohlen. Weggenommen, verbrannt, verdorben.

Die Freunden des Alters. Welch eine groteske Albernheit. Als ich dreißig war, 1952, da war das Leben grau lackiert. Da gab es im Leben kein Leben. Alles war wie tot. Aber friedlich.

Und die Filme. Seht Euch die Filme von damals an. Romanzen in der Heide. Gutsbesitzer und arme Stadtkinder. Manchmal auch in den Alpen. Heide und Alpen. Alpen und Heide. Und die Musik. Ein bisschen Swing noch. Zehn Jahre vorher ist man dafür ins Konzentrationslager gekommen. Jetzt haben die BDM-Mädels mit den SS-Angehörigen danach getanzt.
Und ich habe geheiratet. Die Erstbeste, und sie hat mich geheiratet, weil es sich so gehörte. Man hatte verheiratet zu sein. Ordentliche Leute haben geheiratet. Und dann haben wir am Ersatzleben gearbeitet. Haben uns abgearbeitet für ein Plagiat. Als ich vierzig war, 1962, da haben wir Fernseher gehabt und Auto und Kinder. Die haben wir für das Plagiat erzogen. Wie ich mich schäme. Wie ich mich schäme für das, was ich ihnen angetan habe mit dieser Erziehung zur Ordentlichkeit. Man muss in Deutschland Ordentlichkeit mit Drei Rs sprechen: Orrrdentlichkeit. Wie auf dem Kasernenhof. Ich ekele mich vor meinem Leben.

Als ich zwanzig war und schon ein paar Erfahrungen mit Sex hatte, Pissoir und Kriegskamerad, da wollte ich meine Sexualität leben. Aber ich konnte nicht. Ich war mir sicher, sie würden mich abholen und einsperren, wenn ich es versuchte. Also habe ich es gelassen.

Als ich dreißig war und der Alte vom Rhein eine mausgraue Republik regierte, da habe ich versucht, meine Träume zu erleben. Nachts, in den Parks. Aber es war nicht, was ich suchte. Man sprach nicht über Sex, wisst Ihr, man sprach einfach nicht darüber. Stumm lief man in sein Unglück. Wer nicht fragen darf, bekommt keine Antwort. Es gehörte sich nicht, zu fragen. Also tat ich es nicht. Und war verheiratet und fickte meine Frau am Sonnabend nach dem Bad – Pflichterfüllung. Bis die Kinder kamen. Dann musste ich nicht mehr ficken.  Es hat uns nicht gefehlt. Die Pflicht war erfüllt.

Siebenunddreißig Jahre hat es noch gedauert. Dann ist sie gestorben. Tot. Abgetreten. Ich: einsam, traurig. Habe bei den Kindern rumgelungert und bin viel in Kneipen gegangen. Eigentlich war ich 1988 nur besoffen. Morgens, mittags, abends. Sonst konnte ich nicht schlafen. Dann habe ich mich in der Szene rumgetrieben. Habe mich hinein gestürzt, wie man so sagt. Da war ich 66 Jahre alt, bald 67. Ein angehender Greis. Viel gelaufen ist nicht. Und doch mehr als in meinen ganzen Leben vorher. Aber ich war ja schon alt. Schrecklich, unumkehrbar alt. So alt wie jetzt. Die paar Jahre machen keinen Unterschied, oder ich kann ihn nicht fühlen. Ich will jung sein, wieder jung sein. Ich will nicht, dass ich erst mit 66 glücklich gewesen bin. Ich will jung sein und 66 Jahre lang glücklich sein. Ich will nicht alt sein, ich will nicht alt sein.