Seit meiner frühen Pubertät wollte ich nicht sein, was ich bin, wenn man die körperlichen Merkmale nimmt: Ein Mann. Ich wollte auch nicht sein, was ich nicht bin, wenn man die körperlichen Merkmale nimmt: Eine Frau. Ich wollte ich sein. Es war ein instinktives Begreifen, dass Verhaltensweisen, die sich einem biologischen Geschlecht zuschreiben lassen, etwas sind, was ich später erst als Konstrukt beschreiben konnte. Zu diesem frühen Zeitpunkt, ich war erst 13 oder 14 Jahre alt, hatte ich kein Wort für den, von mir abgelehnten, Zustand. Zugleich wollte ich nicht changieren, also nichts tun, was mich äußerlich in bestimmbarer Weise dem einen oder anderen Geschlecht näher bringt, als es die allgemeinen Konventionen taten. Denen aber wollte ich mich nicht entziehen und will es noch immer nicht. Auch deshalb nicht, weil ich mich dann fest konstruieren müsste, statt, ohne äußere Sichtbarkeit meinen Gender zu dekonstruieren. Es war für mich ein innerer Vorgang, einer, der keiner äußeren Erkennbarkeit bedurfte. So ist es geblieben. Ich bin ich, ich fühle mich nicht im falschen Körper. Es ist meiner, so wie er ist, ist er für mich in Ordnung. Und doch würde ich, was den Gender, also das konstruierte Geschlecht angeht, niemals von mir behaupten, ich wäre ein Mann – sowenig, wie ich behaupten würde, ich wäre keiner. Weder also kann ich dieser Zuschreibung zustimmen oder ihr widersprechen. Sie ist für mich völlig ohne Bedeutung, sie ist eine belanglose Beschreibung meiner selbst, die nicht meine ist.
Gender ist ein gesellschaftliches Konstrukt, dass unterscheidet den Gender einer Person vom biologischen Geschlecht. Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen sind kaum biologisch determiniert, sie entstehen durch gesellschaftliche Zuordnungen. Natürlich bin ich nicht frei von der Annahme dieser Zuordnungen. Niemand ist das. Man kann Sozialisation nicht entkommen. Allerdings ist man auch nicht ein Topf, in den angelernte Verhaltens- und Sichtweisen einfach geschüttet werden. Sie unterliegen der eigenen Interpretation und natürlich auch der Kritik des Individuums an sich selbst. Wobei man natürlich sagen muss, dass dieses, als Hinterfragen gut bezeichnete, Interpretieren und Kritisieren, wiederum durch die Summe von Sozialisationsfaktoren gebildet wird. Da aber die auf uns einwirkende Faktoren auch, und wenn wir Glück haben: oft, einander widersprechen, kann es dazu kommen, dass man sich aufgrund der Summe der externen Einwirkungen aus den einzelnen so weit lösen kann, wie dies unter der kommunikativen Wirkung der Determinanten überhaupt möglich ist.
Als ich begann, mich politisch, und das heißt natürlich auch: persönlich, mit meiner Umwelt, ihren Regeln und ihrem Aufbau, auseinanderzusetzen, bedeutete das auch, mich als „Funktion Mann“ weitergehend und tiefer zu hinterfragen, als ich das zuvor schon, ohne jedes Wissen um die Verfasstheit der mich umgebenden Gesellschaft, getan hatte. Dieses Fragen nach „dem Warum“ von Handlungen und „dem Weshalb“ selbstauferlegter Regeln – die dann doch wieder Regeln der konkreten Umwelt waren, die man antizipiert -, sind Fragen, zu deren Beantwortung nicht nur das theoretische Beschäftigen gehört. Sie sind auf der Ebene von Gefühl und also von unbewusstem Handeln nur zu beantworten, wenn man sich auf neue Gefühlsebenen einlässt. Dazu gehört ganz sicher auch sexuelles Handeln. Ich hatte, auch dies seit meiner frühen Pubertät, immer auch sexuelle Beziehungen zu Männern – auch wenn die auf der Beziehungsebene abseits der sexuellen Interaktion stets anders waren, als zu Frauen. Aber erst das Eintauchen in eine andere, linke Sozialisationsebene machte es mir möglich, diese sexuellen Beziehungen auch ohne Verheimlichung, vor mir selbst insbesondere, zu akzeptieren. Ich habe mich deshalb auch niemals wirklich innerlich einer bestimmten sexuellen Konnotation für mich selbst bedient. Ich bin weder homosexuell, noch bin ich hetero- oder bisexuell, ich bin kein BDSMer und niemand, der keiner wäre: Ich bin ich. Ich möchte mich Konstruktionen entziehen, weil ich mich sonst in ein Korsett von Konventionen pressen lassen müsse, dass mir nicht passt. Diese Ablehnung hat jedoch keinen Anspruch darauf, eine allgemeingültige Ablehnung zu sein. Sie ist außerhalb von mir überhaupt nicht existent. Meine Sicht auf mich besteht, was meine Negation von Gender und sexuellen Präferenzen angeht, nur in mir. Sie ist das Ergebnis MEINER Sozialisation und meiner Sexualität. Sie ist kein Programm, das für jemanden anderen bestimmt wäre, als für mich.
Männliche Verhaltensweisen sind mir zu großen Teilen unklar und oft auch unerklärlich. Ich habe also kein Muster bereit, mit dem ich Herkunft, Anlass, Grund und Sinn bestimmter Gebaren abgleichen könnte. Sie sind nicht meine. (Auch wenn ich mich natürlich manchmal dabei ertappe, sie zu antizipieren und mich, ohne dass ich weiß warum, ganz ähnlich verhalte.)
Das gilt in viel geringerem Maße für weiblich angesehenen Habitus. Ist er nicht auf das gesellschaftlich ja immer noch erzeugte Gehabe des Frauchenschemas reduziert, ist er also – gegenteilig - jenes gesellschaftliche Konstrukt, welches in einer entwickelten Industriegesellschaft üblich geworden ist, so ist er mir eingängig. Ich kann also begreifen, weshalb eine Reaktion in der Weise erfolgt, in der sie erfolgt, weshalb ein Betragen in einer bestimmten Weise stattfindet. Vielleicht ist es mir deshalb ein Einfaches, weibliche Hauptpersonen in meine Geschichten zu setzen, während es mir ein Schweres ist, die fiktive Gestalt eines Mannes zu erfinden, die sich dann, gemessen am Üblichen, auch männlich verhalten soll.
Meine Sozialisation wirkt also direkt in mein Werk. Das ist natürlich eine profane Erkenntnis: Die Sozialisation eines Künstlers wirkt immer in sein Werk.
Mich hat die feministische Bewegung, die eben nicht nur eine Frauenbewegung war, erheblich geprägt. Jener Teil dieser Bewegung, der sich aus den Erfahrungen der proletarischen Frauenbewegung speiste, hat dabei den größten Anteil an dieser Prägung. Es war also nicht „Emma“, sondern die „Courage“, die sozusagen das Monatsblatt war, dass den journalistischen Teil dieser Determinierung lieferte. Es waren Schriften von Clara Zetkin und anderen, und es war natürlich auch die Auseinandersetzung innerhalb der „Linken“ in der damaligen Bundesrepublik, die erheblichen Anteil daran hatte. Aber nicht nur der Feminismus hat mich dabei geprägt, sondern auch die aufbegehrenden Homosexuellen, die Diskussionen um Beziehungsformen, um die Herkunft von Eifersucht (als ebenfalls gesellschaftlichem Konstrukt) usw. haben jene Teile von Sozialisierung früh durchbrochen, die durch Elternhaus, frühe Freunde, Bekannte, Schule usw. geschaffen wird.
Herausgekommen bin ich. Und ich will eben nicht das sein, als das ich in der Hülle erscheine. Ich will ich sein.