„Aminadab“

Eine imaginäre Reise durch den ›literarischen Raum‹ in Maurice Blanchots Roman ›Aminadab‹, der jetzt, achtzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen, endlich auch auf Deutsch vorliegt.

von Jan Oldenburg, Belém do Para, Brasilien

aus dem Niederländischen übersetzt von Peter H. E. Gogolin

Stellen Sie sich vor, Sie verirren sich in einem Haus, das eigentlich nicht existieren kann. Gezwungen sein, sich zu verirren und sich dabei zu fragen, ob man wirklich darin ist, oder ob die Gedanken beim Betrachten eines Gemäldes das Vorstellungsvermögen überwältigt haben. Wer »Aminadab« von Maurice Blanchot liest, kann sich nicht sicher sein: Das Buch spielt ein Spiel mit dem Realitätssinn. Als würde man ein neorealistisches Gemälde von Carel Willink betrachten. Jedes kleinste Detail ist vorhanden, alles ist genau notiert, und trotzdem. Denn wenn man das Ganze zu erfassen versucht, wird es noch unwirklicher.

Dies geschieht auch mit Thomas, Blanchots Protagonisten in »Aminadab«. Bald findet er sich in einem Raum wieder, der ein Maleratelier zu sein scheint. Es entsteht ein Droste-Effekt der Unwirklichkeit, ein Bild im Bild. Der Hausmeister des Gebäudes entpuppt sich als Maler und porträtiert Thomas, der dadurch selbst unwirklich wird.

Wie soll man sich als Leser dazu verhalten? Lesen wir von nun an die Erlebnisse des Protagonisten oder doch vielmehr die der Person im gerade gemalten Porträt des Protagonisten?  Sie gehen ineinander über, Porträt und Realität werden ununterscheidbar. So wie wir alle Kakao-Dosen auf der Kakao-Dose in einer einzigen Dose sehen. Jetzt ist es vollbracht, Blanchot hat den ganzen Roman aus jeglichem Zusammenhang von möglichen Realitäten herausgerissen. Es ist ein neuer Raum entstanden, ein „literarischer Raum“, durch den Thomas uns führt. Er nimmt uns gewissermaßen an der Hand, während er selbst von einem Bewohner des nicht existierenden Hauses weggeführt wird. Das Zimmermädchen öffnet alle Türen in einem Stockwerk, nur die Tür, die einen Ausweg bieten sollte, bleibt geschlossen. Thomas kann das Haus nicht verlassen, die Tür lässt sich nur von der Straße aus öffnen. „Sie ist nur für Passanten gedacht, und auch Passanten haben ihre Vorlieben.“ Und man erinnert sich daran, dass Thomas sie ebenfalls hatte, als das Buch gerade begann? Wie anders ist seine Situation jetzt, wie anders ist auch die Wahrnehmung des Lesers. Der Protagonist wurde vom Außenseiter zum Insider, gilt eine ähnliche Metamorphose auch für die Wahrnehmung des Lesers?

Wer dieses Buch als gewöhnlichen Roman liest, wird nicht gerade das Gefühl haben, durch ein reales Haus zu gehen. Man kann es auch nicht, denn es ist ein unmögliches Haus, so wie die Treppen des Malers Maurits Escher („Auf- und Abstieg“) nicht existieren können. Aber der Leser wird sich, wie Thomas, von der Außenwelt abschotten müssen. Gerade weil alles im Buch sich in Richtung des Unwirklichen entwickelt, erhalten wir als Leser die Chance, durch die Ereignisse in »Aminadab« eine neue Erfahrungswelt aufzubauen. Eine Welt für uns selbst, in der die Gedanken durch nicht existierende Konstrukte wandern. Und das fasziniert. Das macht neugierig darauf, was dieses Buch sonst noch zu entdecken bietet.

Vielleicht ist die Hauptfigur niemand, mit dem sich der Leser leicht identifizieren kann, aber … Aber könnte es nicht sein, dass Thomas in Wirklichkeit niemand anderes ist, als der Leser selbst? Dass das Haus für die literarische Welt steht und seine Bewohner in Wirklichkeit die Buchautoren repräsentieren?

Dies scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, sich die totale Entfremdung, die Blanchot hier darstellt, noch „zu eigen“ zu machen. Aber auch ohne diese Idee, ohne diesen vielleicht etwas philosophischen Hintergrund, ist »Aminadab« ein sehr attraktives Buch, das den Leser auf einen Streifzug nach innen mitnimmt. Thomas‘ Erlebnisse, auch wenn man keine weiteren philosophischen Spekulationen daran knüpfen will, sind gelinde gesagt wundersam, und hier und da regen sie gar die Lachmuskeln zur Aktivität an. Es mag etwas schwierig sein, sich mit dem Protagonisten anzufreunden, andererseits ist Thomas durchaus in der Lage, die Sympathie der Leser zu wecken.

Aber ich habe das Gefühl, dass dieses Buch tatsächlich mit der Absicht geschrieben wurde, den Leser mehr dahinter suchen zu lassen und nicht in der Oberfläche der Geschichte steckenzubleiben. So gesehen gäbe es in »Aminadab« viel zu lesen, obwohl Thomas selbst im Buch bis zum Schluss gar nichts liest. Zwar ist da vieles lesbar: Plakate an den Wänden, Etiketten auf der Kleidung der Bewohner, Seiten in einem Notizbuch – in dem alles ausradiert oder unleserlich ist. Was bedeutet das?

Wer weiß, dass Maurice Blanchot (1907 – 2003) vor allem als Literaturkritiker und Philosoph berühmt wurde, kann sich vorstellen, dass solche an sich unbedeutend erscheinenden Details in der Summe doch etwas bedeuten. Und als Autor der recht komplizierten Literaturtheorie „L’espace lítteraire“ („Der literarische Raum“) kann er kaum etwas anderes im Sinn gehabt haben, als die erzählerische Erschaffung eben dieses neuen Raumes. Dabei überschreitet »Aminadab« auch von der Konstruktion her die erzählerischen Konventionen. So ist das Buch nicht in Kapitel unterteilt, sondern schließt nach jeder Szene eine neue Szene an, ohne sie zwingend kausal zu verknüpfen, als wäre es ein willkürlich geschnittener Film. Das ist eine der Stärken dieses Buches, es liest sich wie ein Film.

Maurice Blanchot: Aminadab, Roman, 288 Seiten Broschur, diaphanes, Euro 20,00, ISBN-10: 3037346558