Rezension zu Lea Söhners Erzählband »Die Vögel singen weiter – Vom Leben und vom Sterben«
Erzählen ist Totensuche
von Peter H. E. Gogolin
Homer sagt, dass die Götter den Sterblichen das Unglück schicken, damit sie davon erzählen können. Wenn das wahr ist, dann wären Tod, Leid und alle Missgeschicke auf dem Wege dahin, eine Gabe der Götter, die zugleich den Ort bezeichnet, an dem die Sprache beginnt. Der Tod öffnet für die noch Lebenden die Sprache, öffnet sie unmittelbar in dem Moment, da er sie den Toten raubt.
»Erst jetzt kann ich dir die Geschichte meines Onkels erzählen, der nie mein Onkel geworden war, der nur Heinrich blieb, der Bruder meines Vaters.« beginnt Lea Söhner ihr leises, nachdenkliches Erzählbuch »Vom Leben und Sterben«. »Heinrich, der zum Sterben an einen Baum gelehnt worden war und der niemals zu Ende betrauert werden konnte, weshalb die Trauer immer noch zähflüssig in den Stiefeln meines Vaters steht.«
Im Judentum kennen wir den hebräischen Ausdruck der »Schiwa«, der das traditionelle siebentägige Trauern im Haus des Verstorbenen meint. Das »Schiwa sitzen« ist eine große Mizwa (Gebot/Pflicht), die unter anderem dem Andenken an den Toten gewidmet ist, indem man von ihm und den Begebenheiten aus seinem Leben erzählt.
Zu Beginn meiner Lektüre von Lea Söhners Buch kam mir der Gedanke an das Schiwa sitzen lediglich wie eine private Hilfsvorstellung vor, die mir erlaubte, dem Reigen von Leben und Sterben, den die Autorin da entfaltet, weiter zu folgen, ohne diesem Sprechen an der Grenze des Todes mit Abwehr zu begegnen. Je länger ich dann las, um so deutlicher hatte ich jedoch den Eindruck, mich nicht in einem Buch sondern in einem Trauerhaus zu befinden. In einem Trauerhaus, in dem die Erzählerin die Leser um sich versammelt, um von all den Toten zu erzählen, denen sie gedenken will, weil der Tod ihr für sie und ihre Geschichten nun endlich die Sprache gegeben hat.
Es ist die Trauer, die da spricht. Vierzehnmal insgesamt, wenn ich richtig gezählt habe. Ein solches Buch mag nicht jedermanns Sache sein, aber man spürt, wenn man sich darauf einlässt, dass alle diese Geschichten mit Liebe geschrieben sind. Das macht die Lektüre der Texte fast zu einer Notwendigkeit, denn sie vermitteln zwischen liebendem Angedenken und unvermeidlicher Trauer auch eine ganz konkrete Erfahrung, die in unserem Alltagsleben sonst kaum mehr zu haben ist. Wir bewegen uns nämlich im Trauerhaus dieses Buches, das die Grenze zum Tod immer offen hält, auch im Angesicht des möglichen, stets drohenden eigenen Todes. Und ist es nicht immer so, dass nur das Erzählen den Tod zu bannen vermag? Den beständigen Tod um uns und in uns, mitsamt all dem Vergessenen, Zurückgewiesenen und Abgestorbenen, das wir wieder ins Leben zurückerzählen sollten, wenn wir leben wollen.
Lea Söhner erzählt diese Schicksale in ihrem Buch »Die Vögel singen weiter« – ein Titel, der nur auf den ersten Blick tröstlich wirkt, denn er meint ja auch, dass das böse Geschick, das da über die Menschen verhängt ist, die Vögel nicht kümmert, so wenig wie es die Bäume im Friedwald kümmert, wer da zwischen ihren Wurzeln beigesetzt ist – in einer ruhigen, unaufwendigen Sprache. Es ist mitunter mehr als deutlich, dass die Autorin keine Literaturproduktion im Sinne hatte. Einige ihrer Texte sind gar kaum zwei Seiten lang und wirkten auf mich fast wie beiläufige Gespräche im Treppenhaus, aber die sind allemal besser als zu hoch gehängte Bemühungen, die ihrem Gegenstand trotzdem nicht gerecht werden können. Lea Söhner wagt es schließlich vom Tod zu sprechen, von vielfachem Tod sogar, das ist nicht wenig. Dass die Sprechende dabei zugleich auch immer wieder sprachlos klingt, wer wollte es ihr verdenken. Auch hier half mir die Vorstellung der Schiwa. Beim Schiwa sitzen hocken die Trauernden während der Schiwa auf niedrigen Stühlen und Hockern, um einzugestehen und sich bewusst zu machen, dass mit dem Eintritt des Todes etwas Unwiderrufliches geschehen ist, denn vor der schwarzen Wand des Todes werden wir alle klein. Wer dieses Buch lesen will, der sollte es deshalb vielleicht tun, als besuche er die Autorin und ihre Familie im Trauerhaus. Ziehen Sie sich einen Hocker heran und setzen sich dazu, während von Heinrich, Emma, Irmgard, Dhyan, Fräulein Schmälzle, die niemand jemals lachen hörte, und den anderen erzählt wird. Sie werden bereichert wieder aufstehen, und es wäre eine Übung in Demut, die uns, das wissen wir ja, viel zu oft fehlt.