Hans Pleschinskis Roman Wiesenstein

Rezension von Jutta Schubert

Ein Auto, genauer ein Opel Blitz, überquert eine Brücke. Ein Sanitätstransporter. Wir schreiben das Jahr 1945, es ist Februar. Der Sanitätstransporter birgt eine eigentümliche Fracht. Er transportiert einen alten, schwerkranken Mann, einen „berühmten Greis“, seine Frau und zwei Begleiter nach einem Sanatoriumsaufenthalt nahe Dresden zum Bahnhof. Der Alte will nach Hause. Sein Zuhause liegt im Osten, im Riesengebirge. Während die Flüchtlingsströme in Richtung Westen ziehen, strebt die kleine Gruppe dorthin, wovon alle so schnell wie möglich wegwollen, aus Angst vor der vorrückenden Roten Armee und den polnischen Milizen.

Das Reiseziel ist die erste Überraschung des Buches. Die Perspektive, aus der die Fahrt geschildert wird, ein regelrechter Schock. Denn die Leser erleben das Geschehen aus der Sicht des Stabsgefreiten am Steuer und eines frisch gebackenen Sanitäters, eines Notabiturienten auf dem Beifahrersitz. Die beiden fragen sich, welche besonderen Beziehungen der Alte wohl haben mag, in diesen Zeiten ein Transportfahrzeug zu bekommen, mit Sondergenehmigung, während ganz Dresden über kaum mehr einen Krankenwagen und keinen Löschzug mehr verfügt. Ob der noch irgendwo ankommt, witzeln sie unverfroren und fahren dabei durch eine Gegend voller Brandgeruch und verkohlter Sträucher, Häuserruinen, Trümmer, vernagelte Fenster und die geborstene Rotunde des Zirkus Sarrasani. Überall Verwüstung, Entbehrung, Tod. Ein Sieg kostet Opfer, denken sich die Sanitäter.

Dieser Blick auf das Land, die Zerstörung, wird einer der maßgeblichen des Buches bleiben. Dies ist ein Roman über Gerhart Hauptmann? Ja, in der Tat, aber keineswegs nur. Die Sensation dieses Buches besteht nicht in der Schilderung des sterbenden Großautors und Nobelpreisträgers über einen Zeitraum von etwa eineinhalb Jahren hinweg. Obwohl dies die Hauptgeschichte des Romans ist, erzählt er viele Geschichten. Die von Tätern und Opfern handeln, von Flüchtenden und Bleibenden, von Verzweifelten und Abgebrühten, von Anhängern des stürzenden Systems, Mitläufern, Gegnern. Von verstörten Kindern, einsam auf ihre Männer wartenden Ehefrauen, Bewohnern, denen ihr Hab und Gut und die Zukunft abhandenkam, Alten, die vor Erschöpfung am Straßenrand sterben, Jungen, für die in all dem Untergang das Leben dennoch weitergeht oder eine neue Wendung nimmt. Ein Buch vieler Stimmen, Perspektiven aus einer mehr als trostlosen, schrecklichen Zeit, in der die Fronten nicht mehr klar zu unterscheiden sind.

Der deutsche Autor Hans Pleschinski, ein Nachgeborener der Kriegsgenerationen, wagt sich an einen Stoff heran, den man so in einem deutschen Roman noch nicht gelesen hat. Er beleuchtet das Grauen, wirft einen vielfältigen Blick auf das gescheiterte Leben in einem geborstenen Land nach dem Zusammenbruch der Naziideologie, ein Land, das gerade den Krieg verliert, den es selbst angezettelt hatte. Der Autor scheut nicht davor zurück, die Haltungen seiner Personen hart aufeinandertreffen zu lassen, kommentarlos, ohne Beschönigung. Er zeigt Lebensentwürfe inmitten der Katastrophe, nach dem Ende der so größenwahnsinnig geglaubten Ideologie eines Volkes, das sich zum Beherrscher Europas aufschwingen wollte. Die Angst der einzelnen Menschen wird greifbar, ihre zerschossenen Hoffnungen, verbrannten Träume, Leid und Schuld eines irregeleiteten Volkes. In diesen Monaten bis zum Kriegsende und denen danach ist jeder auf sich allein gestellt, steht der Unsicherheit gegenüber, dem Unrecht, der Gewalt, dem Chaos. Buchstäblich am eigenen Leib fühlt man das in Pleschinskis Schilderungen mit. Seine oftmals knappe, schnörkellose Sprache bringt die Atmosphäre auf den Punkt. Solch einen Roman hat noch kein deutscher Autor über den Zusammenbruch des Dritten Reiches geschrieben, nah, schonungslos, angereichert mit durchweg stimmigen Fakten einer unglaublich akribisch geführten Recherche. Aber es ist kein Sachbuch geworden und das ist sein Verdienst. Er blickt in die Köpfe, die Herzen, die Verstrickungen seiner Figuren, zeigt sie schwach, gescheitert, hilflos, schuldig, ausgeliefert und dennoch mit ungeheurem Lebenswillen. Die Leser mögen sich selbst ein Urteil bilden, wer hier zu verdammen, wer zu bedauern wäre.

Dabei ist der sterbende Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann der Fixstern, um den sich die Geschichten anreichern. Er kehrt trotz näher rückender Front in sein Haus Wiesenstein in Schlesien zurück, seine Trutzburg, die er sich einst hat bauen lassen und in der er die meiste Zeit seines Lebens und Schaffens verbrachte. Unbeirrbar halten er und seine Frau an ihrem bisherigen Leben fest, hoffen auf Hilfe, zweifeln und verzweifeln. Hauptmanns Verstrickung in die Machenschaften der Nazis werden dabei ebenso deutlich wie seine Verdienste um die Literatur und das Theater. Die Figur des berühmten Autors durchzieht den Roman mit seiner umstrittenen Beharrlichkeit.

Das Personal auf Wiesenstein, vom Gärtner bis zur Sekretärin, durchwandert das Buch wie das Haus, das die anfangs Aufbrechenden nach Mühen tatsächlich erreichen und zeigt den Lesenden die Hoffnung, die Wandlungsfähigkeit, die Reue, die Angst jedes einzelnen Mitglieds dieser Notgemeinschaft auf. Multiperspektivisch springt das Buch durch seine fast 550 Seiten in die Köpfe vieler Protagonisten, deren persönliche Abgründe, Ängste, Ziele, Freuden, Stärken und Schwächen in dieser Ausnahmesituation. Pleschinski traut sich etwas. Er zeigt auf, was verloren ging und wie, durch Verblendung und Hingabe an ein diktatorisches System, durch Schweigen, Mitlaufen, Durchhalten, durch Anrennen und Scheitern. Am Ende des Buches hat man als Leser das Gefühl, dabei gewesen zu sein, Teil der Katastrophe. Diese Erfahrung, die das Buch vermittelt, sei an die Nachgeborenen empfohlen, denen eine Geschichte von Krieg, Vertreibung und Flucht und der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld daran im eigenen Leben erspart blieb. Zumal nahezu jede Familie im Nachkriegsdeutschland ihre Wurzeln in einer Geschichte finden kann, die in den von den Nazis und dem Zweiten Weltkrieg angerichteten Desaster ihre Ursachen hat. Und darüber hinaus erfährt das Buch eine Aktualität aus der Parallele unserer gegenwärtigen Welt neuer Flüchtlingsströme. Es ist kein Buch, bei dem man sich zurücklehnen kann. Vieles, was Pleschinski schildert, greift unmittelbar an. Doch es öffnet Augen und Herz und hat dazu, ganz nebenbei, vom Wert der Literatur zu erzählen.

 

Hans Pleschinski, Wiesenstein, Roman, C.H. Beck, München, 2018