Anarchistische Lebenslinien
- Erstmalige Veröffentlichung der unvollendet gebliebenen Memoiren von Fritz Oerter
Der deutsche Anarchosyndikalist Fritz Oerter (1869-1935) ist im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Anarchist_innen wie Gustav Landauer, Rudolf Rocker oder auch Ernst Toller nach 1945 ein Stück weit in Vergessenheit geraten – zu Unrecht. Er verfasste für die anarchistische Presse – von der in den USA verlegten „Anarchist“, der in London publizierten „Autonomie“ bis zu diversen deutschen Publikationen der FAUD (z.B. „Der freie Arbeiter“, „Die Internationale“) und deren Vorfeldorganisationen wie dem syndikalistischen Frauenbund („Frauenbund“) – wichtige Beiträge. In seinen Texten deckte er zahlreiche Themen von der „Frauenfrage“, über den Generalstreik bis zu Antimilitarismus und freier Liebe ab. Neben Artikeln verfasste der Franke aber auch eine Reihe von Gedichten. Viele dieser Texte davon harren einer Neuveröffentlichung…. Die „Lebenslinien“, d.h. die unvollendeten Memoiren des 1935 von Nationalsozialisten ermordeten fränkischen Anarchisten, wurden nun erstmals von dem Autor Leonard F. Seidl, der Oerter bereits in seinem Krimi „Vom Untergang“ (Edition Nautilus 2022) porträtierte (und diesen dessen Enkel widmete), herausgeben und mit einem umfangreichen Nachwort versehen. Die Memoiren sind ein sehr interessantes Zeitdokument in Bezug auf die Entwicklung und Sozialgeschichte des deutschsprachigen Anarchismus – und ergänzen sehr gut andere Autobiographien aus jenen Jahren wie z.B. Emma Goldmans „Gelebtes Leben“ (Edition Nautilus).
Im umfangreichen Nachwort zu den Memoiren, welches knapp 1/3 des vorliegenden Werkes ausmacht, zeichnet Seidl auch noch mal die Lebensgeschichte nach – und ordnet einzelne Bereiche konkreter ein. Dabei greift er immer wieder auf Tagebucheinträge, Gedichte und Auszüge aus Artikeln – z.B. auch zur Räterepublik – zurück, was dem ganzen zu einem sehr lebendigen Stil verhilft.
Mehr noch als die Gedenktafel für Oerter, die auf die Initiative des Herausgebers 2019 in Fürth enthüllt wurde, ist sicherlich die Herausgabe der „Lebenslinien“ eine wichtige Würdigung des Schaffens jenes deutschen Anarchosyndikalisten. Es ist ein sehr wichtiges und gutes Buch!
Maurice Schuhmann
Fritz Oerter: Lebenslinien, Verbrecherverlag Berlin 2022, 240 S., ISBN: 9783957325259, Preis: 20 €.