SZ: In Ihrem Fall waren sich öffentliche und veröffentlichte Meinung einig. Bei Thilo Sarrazin jedoch scheinen sich die politische Klasse und die Medien gegen die Mehrheit der Menschen verschworen zu haben. Wie erklären Sie sich das?
Muslima in einer Berliner S-Bahn Foto: Regina Schmeken Bild vergrößern

Gauck: Ich habe das etwas anders wahrgenommen. Der seriösere Teil der Medien ist eher kritisch gegenüber Sarrazin, der – sagen wir – volksnahe Teil eher positiv. Intellektuellen fällt es schwer, zu akzeptieren, dass mit dem Element des Tabubruchs Politik gemacht wird. Mein Eindruck ist, dass der Herr Sarrazin nicht ein Problem erfunden hat.

Anmerkung: Natürlich kann man mit Tabubrüchen Politik machen. Es ist die Frage, wer das Tabu bricht und wer das Ziel des Bruches ist. Hier hat ein Mitglied der Nomenklatura der BRD einen Tabubruch begannen und sich dafür eine Minderheit ausgesucht. Das ist ein Tabubruch durch jene, deren Aufgabe es sein muss, Minderheiten davor zu schützen, dass nach dem Brechen von Tabus nicht auch Genicke gebrochen werden. Wer aus den Reihen der Nomenklatura den Tabubruch trotzdem begeht, stellt sich objektiv auf die Seite derer, die vor keinem Tabubruch zurück schrecken.

SZ: Warum dann diese massive Aufregung?

Gauck: Es ist wie so oft eine Pendelbewegung. Wir haben geglaubt, wir sind nicht nur eine Gesellschaft deutscher Dumpfnickel. Wir sind eine bunte, lebendige Gesellschaft. Wow. Schön. Aber es funktioniert eben nicht alles so harmonisch, wie sich das einige gewünscht haben. Jetzt schlägt das Pendel zurück.

Anmerkung: Das Pendel. Oder das Volk. Oder der deutsche Volkskörper. Oder die arische Rasse. Oder die, welche keine fremden Gene in sich tragen, wie sie von Sarrazin bei Basken und Juden vermutet werden.

SZ: Wie würden Sie das deutsche Integrationsproblem beschreiben?

Gauck: Es besteht nicht darin, dass es Ausländer oder Muslime gibt – sondern es betrifft die Abgehängten dieser Gesellschaft. Darum erscheint es notwendig, und das ist meine Kritik an Sarrazin, genauer zu differenzieren und nicht mit einem einzigen biologischen Schlüssel alles erklären zu wollen. Und plötzlich wird aus einem Hype eine nüchterne Debatte.

Anmerkung: Wenn man nicht einen Schlüssel benutzt, wird aus dem Hype eine nüchterne Debatte. Soll das heißen, man braucht mehrere? Nicht Nasenformen allein? Auch Intelligenz, Haarfarbe, Hautfarbe? Oder soll das heißen: Es kommt gar nicht auf biologische Schlüssel an, sondern auf Verwertbarkeitsberechnungen? Darauf, dass die Abgehängten nicht auf den Gleisen herumlungern, auf denen die gesellschaftslichen Hochgeschwindigkeitszüge fahren sollen?

SZ: Macht Sarrazin nicht mit seinen oft polemischen Äußerungen eine nüchterne Debatte unmöglich?

Gauck: Zu solchen Debatten gehört die Zuspitzung und auch die populistische Übertreibung. Daran krepiert das Land nicht gleich. Darum schaue ich etwas ängstlich auf eine Entwicklung, die Peer Steinbrück jüngst als „Kultur der Wohlfahrtsausschüsse“ umschrieben hat: Da fällen die Weisen ihr Verdikt, eines Anathemas des Papstes gleich: Verschwinde aus meiner Partei, du bist der Teufel! Nein, wir sollen ihn kritisieren, wo es nötig ist, und seine Anregungen aufnehmen. Was mir an diesem Teil des Medienhypes nicht gefällt, ist, dass ein großer Teil der Bewegung angstgesteuert ist. Ich bin unglaublich allergisch gegenüber einer Politik, die maßgeblich auf Angstreflexe setzt. Das gilt auch bei anderen Themen, etwa wenn es um die Nutzung der Atomenergie geht. Wir sollen auf Aktionsformen verzichten, die auf die Angst von Menschen setzen und daraus eine Dynamik ableiten.

Anmerkung: Nein, an der Zuspitzung von Ausländerbashing krepiert das Land nicht. Im Zweifel nur die Ausländer, und die dann auch nur mittelbar. Was hat Breivik mit Sarrazin zu tun? Er hat ihn gelesen und interpretiert. Was hat Sarrazin mit Breivik zu tun? Nichts, er kennt ihn nicht einmal. Was sagt uns Gauck hier? Eines nicht: Wo die Grenze ist, wo die Demagogie, die mit dieser Antwort auch zu seiner wird, in unmittelbare Gefahr umschlägt. Man darf zuspitzen. Und wir sollen es dulden. Er sagt es übrigens bevor wir über die neofaschistischen Terroristen informiert sind. Bevor die Attentate in Norwegen stattgefunden haben. Während Sarrazin also mit den Ängsten von Kleinbürgertum um Mittelstand agiert, sollen seine Kritiker nicht mit den – doch ganz real gewordenen – Ängsten vor den Konsequenzen solcher demagogischen Angstpolitik agieren. Dabei zeigt – es damals schon zu wissen, wäre keine besondere intellektuelle Leistung zu gewesen – die Geschichte: Die Kritiker hatten recht. Man soll also nicht vor dem Rassismus warnen – und seinen ganz wirklichen Ergebnissen. Man soll nicht vor der Atomkraft warnen, in dem man die Angst benennt, die einem Super-GAU innewohnt. Hat sich Gauck von Gauck distanziert? Mir ist dazu nichts bekannt.

SZ: Wie erklären Sie sich die breite und diffuse Angst vor Ausländern in diesem Land? Tatsächlich betreffen die harten Integrationsprobleme ja nur sehr wenige Quartiere in größeren Städten.

Gauck: Mittelstandsfamilien, die Angst vor dem Absturz haben, neigen dazu, ein Bedrohungsszenario zu entwickeln, in dem der Fremde, das Fremde, der Andersartige das eigentliche Problem wäre. Und es gibt unter Politikern offenbar die weitverbreitete Angst etwas zu tun, was Wählerstimmen kosten könnte. Das verhindert sehr oft eine offene Debatte.

Anmerkung: Die offene Debatte. Was soll die sein, in einem Land, in dem der designierte Bundespräsident gerade einen lockeren Umgang mit rassistischen Thesen propagiert hat? Was anderes kann sie dann sein, als die rassistischen Ängste in Politik umzusetzen?

 

Das Interview in voller Länge (Süddeutsche Zeitung vom 19.02.2012, 23:33