Pervers
Die psychologische und psychoanalytische hat ebenso wie die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Sadomasochismus vor ein paar Jahren neuen Aufschub erlebt. Die 2006 zum Thema „Lust-voller Schmerz“ abgehaltene Tagung der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung zeugt von diesem Interesse ebenso wie die hier vorgelegte Untersuchung. Die Öffnung der sexuellen Subkultur und ihr Kampf um die gesellschaftliche Akzeptanz im Fahrwasser der Erfolge der schwul-lesbischen Bewegung haben hierzu beigetragen.
Der italienische Psychoanalytiker und Supervisor der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft Franco de Masi, der diese Entwicklung mit einer gewissen Skepsis betrachtet, konstatiert in seiner Untersuchung „Die sadomasochistische Perversion“, die auf seiner eigenen beruflichen Erfahrung beruht, das Fehlen von einer einheitlichen Position der Psychoanalyse zum Gegenstand der „sadomasochistischen Perversion“. Von der Unzufriedenheit darüber hat er in der vorliegenden Arbeit den Versuch unternommen aus der Vielzahl von Ansätzen die Übereinstimmungen und Differenzen herauszuarbeiten.
Er erklärt über seine Ausgangsbasis und den Ansatz seiner Untersuchung: „Meine Absicht ist es, bildlich gesprochen, innerhalb eines komplexen Organismus eine Zelle zu isolieren, die ich ’sadomasochistische Monade‘ nenne und in der ich die mentale Erscheinung der destruktiven Lust ansiedle. Die sadomasochistische Perversion erweist sich so als Passage zu einem komplexen mentalen Universum, in dem ein bestimmter Typus von Lust sich als ein einziger zwangshafter Akt konstituiert. […] Ebenso wichtig ist die Frage, ob sich unter den vielen symptomatischen und nichtsymptomatischen Äußerungen des Sadomasochismus die reine und eigentliche sexuelle Perversion ausmachen läßt“ (S. 36). Bei seiner Untersuchung greift er dabei nicht nur auf Patientengeschichten, sondern auch auf Filme („Tokyo Dekadenz“, „Im Reich der Sinne“) und literarische Erzeugnisse („Geständnis einer Maske“) zurück.
Ausgehend von einer Darstellung der Vorläufer (Kapitel 2), dem Versuch einer definitorischen Einordnung der Begriffe wie „Perversion“ und „Paraphilie“ (Kapitel 3) nähert er sich nach weiteren Exkursen über einzelne Ausprägungen dessen, um u.a. eine klare Abgrenzung gegenüber neurotischem Verhaltentreffen zu können, im 8. Kapitel den gängigen „Theorien der sadomasochistischen Perversion“. Nach seiner Auffassung lassen sich drei Grundpositionen in der psychoanalytischen Community ausmachen:
„ 1. Bei der ersten Gruppe […] wird die sadomasochistische Perversion als deviantes Sexualverhalten aufgefaßt, wobei die Betonung auf einer Störung der Sexualität liegt. […] 2. Die zweite Gruppe […] umfaßt die relationalen Theorien. Für sie liegt der Schwerpunkt auf der Abwehrfunktion der Sexualität, wobei sie den Ängsten, die die persönliche Identität bedrohen, eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Perversion beimessen.
3. Andere […] betrachten die Perversion als Sexualisierung von Macht und Grausamkeit, als eine psychopathologische Persönlichkeitsstörung“ (S. 73f.).
Diese beschreibt er im Folgenden unter der Prämisse einer Verdeutlichung des Potentials für eine gegenseitige Ergänzung. Aufbauend darauf legt er seine eigene Position dar. Diese zeichnet sich, wie der Herausgeber Helmut Hinz im Vorwort schrieb, vor allem durch aus, dass er die These aufstelle, dass die „zentrale Dynamik antirelational und radikal antilibidinös zu denken sei und in suchtartigen Erregungszuständen manifestiere, die sich an der Vorstellungswelt totaler Macht über das Objekt und völliger Unterwerfung des ‚Objekts […] entzündet“ (S. 8). Demnach erfolgt die Erregung aus der Grenzüberschreitung und des Umsturzes der Normen. Hass und Aggression als Motor der Perversion werden hingegen negiert – ebenso wie ein symbiotisches Verhältnis der Partner. Sowohl der sadistische als auch der masochistische Part ziehen ihre Lust aus dem komplementären System. Der Narzissmus wird zur Grundfeder der Lustempfindung. Francesco Barelli sieht gerade darin das Spezifikum seines Ansatzes – „die radikale Trennung von sadistischer Destruktivität und psychosexueller Entwicklung (und der Welt der Beziehungen.)“ (S. 15). Damit kristallisiert sich eine Radikalisierung der dritten Grundposition bei ihm heraus.
Dem folgt eine Auseinandersetzung mit Grenzbereichen dessen (Kapitel 9). Hierzu zählen für ihn sowohl Borderline-Strukturen, Psychosen und die Symbiose mit der Kriminalität. Dem Thema des Zusammenhangs mit Kindheitstraumata, die von Psychoanalytikern häufig negiert wird, widmet er dann noch ein eigenes Kapitel. Hierin liegt eine weitere Stärke seiner Untersuchung, dass er die häufig wahrgenommen Konvergenzen zu anderen Persönlichkeitsstörungen berücksichtigt. Gleichzeitig fehlt ihm hierbei die Motivation, in die nötige Tiefe der Thematik abzutauchen. Im 12. Kapitel kommentiert er ein weiteres Mal die o.g. Grundpositionen unter dem Blickwinkel seiner eigenen Position, um im 13. Kapitel Schlüsse für die psychoanalytische Praxis daraus zu ziehen und im 14. die Verbindung von Lust und dem Bösen aus psychoanalytischer Sicht zu erläutern.
Die hier vorgelegte Pionierarbeit von Franco de Masi über das Forschungsfeld der sadomasochistischen Perversion verdient es, wissenschaftlich weiter verfolgt zu werden. Sein vertretener Ansatz scheint – trotz gelegentlich fehlender Stringenz – diskutiert zu werden. Er bietet eine neue Perspektive auf die „sadomasochistische Perversion“, die mir plausibler als die gängigen Theorien erscheint. Ebenso ist der gewählte Zugang über die Einbeziehung von kulturellen Erzeugnissen geeignet, um sich dem Phänomenen adäquat zu nähern. Für Laien bietet sich seine Untersuchung darüber hinaus durch die pointierte Darstellung der unterschiedlichen Grundpositionen an. Eine Schwachstelle ist allerdings sicherlich der Versuch, eine reine Form der sadomasochistischen Perversion zu finden – unter der Maßgabe einer scharfen Trennung zwischen „normaler“ und „perverser“ Sexualität.
Franco De Masi: Die sadomasochistische Perversion. Beiheft 23 / Jahrbuch der Psychoanalyse, fromann-holzboog Verlag Stuttgart / Bad Cannstadt 2010, 206 S., ISBN: 978-3-7728-2445-6, Preis: 58 Euro.