Er:

Das ist nicht so leicht, und ich könnte mir vorstellen, dass es den einen oder anderen Leser sogar abschreckt, wenn er mit dem Buch beginnt. Ich nenne es für mich Glöcklers Methode des aufgesplitterten Bewusstseins. Stell dir vor, du kommst fremd in ein randvolles Lokal, Stimmen und Geräusche überall, du verstehst die Sprache vielleicht nur unzureichend, weißt nicht genau, was die Dinge um dich herum wirklich bedeuten, zwischen all dem versuchst du dich zu orientieren, schaust von hier nach dort und willst keinen Fehler machen, dabei gibt es dort jemanden, der dich fasziniert, der dich anzieht, was du dir aber nicht anmerken lassen willst.

Sie:

Eine recht schwierige, vielschichtige Situation demnach. Und das stellt Glöckler sprachlich wie da? Ich könnte mir vorstellen, dass ein minder sprachbewusster Autor sich solch einer Aufgabe lieber entziehen würde.

Er:

Genau das tut er, er wählt diese schwierig zu gestaltende Situation als Auftakt zu seinem Buch, und es gelingt ihm so virtuos, wie es nur ein wirklicher Meister erreicht. Ich musste unter der Lektüre immer wieder an kubistische Gemälde, von Lyonel Feininger etwa, denken, an Städtebilder, die in ihrer geordneten Architektur wie zersprengt und aufgelöst sind, dadurch aber ganz neue Landschaften entstehen lassen, wo alles in Bewegung gerät. Und dann wurde mir klar, dass das nicht zufällig so war, denn die Zeit der Handlung dieser Anfangs-Episode deckt sich ja gerade mit dem Beginn des Kubismus. Glöckler wählt sich also eine Darstellungsmethode vom Beginn der Klassischen Moderne, um sie sprachlich zu adaptieren und für die Zeichnung seines Porträts des Maler Marsden Hartley zu verwenden. Weniger liegt hier nicht vor.

Sie:

Hört sich gut an, wenn Du es erklärst, aber du hast was vom Abschrecken des Lesers gesagt.

Er:

Der wahre Leser lässt sich ja nicht abschrecken, der liest, bis er den Zugang findet.

Sie:

Ich hab gerade mal den Anfang angelesen, nur angelesen, zugegeben, aber ich komme schlecht rein.

Er:

Vielleicht wäre, weil der sprachliche Komplexitätsgrad gerade am Anfang von Glöcklers Novelle doch recht hoch ist, ein Hinweis angebracht. Normale Bücher ….

Sie:

Was sind normale Bücher? Also, für dich?

Er:

In dem, was ich normale Bücher nenne, geht es um Handlung. Da liebt der Emil die Ottilie, die Ottilie liebt aber den Franz. Und damit es jetzt etwas spannender wird, da liebt der Franz den Emil. Oder so ähnlich.

Worum es mir aber geht, das ist der Umstand, dass du solche ›normalen Bücher‹ gewissermaßen von außen betrachten kannst. Du liest sie und bleibst als Leser außen. Bei Glöcklers Novelle geht das nicht. Da kann es dir passieren, das du nicht rein kommst, wie du vorhin selbst gesagt hast. Glöcklers Sprache musst du deshalb von innen her erleben, erfassen. Du musst selbst zur Hauptperson, zum erlebenden Ich, werden. Dann erlebst du die geschilderte Situation so, wie Marsden Hartley sie erlebt, das ermöglicht dir Glöcklers Sprache.

Sie:

Wie würdest du diese Sprache beschreiben?

Er:

Nun, sie ist halt Kunst. Glöcklers Text kann in meinen Augen den Status der Kunst beanspruchen. Was aber auch nur angemessen ist, da er schließlich über einen Künstler schreibt.

Sie:

Ich hab mich schon oft gefragt, warum etwas Kunst ist oder sein soll. Bisher hab ich es noch nicht verstanden.

Er:

Peter H. Gogolin

Peter H. Gogolin

Soll ich ausholen? Wir leben alle, indem wir uns das Leben gewöhnlich zu machen versuchen, verständlich, begreifbar. Wir möchten nicht ständig mit neuen Problemen konfrontiert werden, für die wir am Ende auch noch neue Lösungswege zu suchen haben. Lieber ist uns ein Alltag, den wir mit Routinen im Griff behalten können. Routine, Wiederholung erleichtert alles, sogar das Schreiben von Büchern. In der Systemtheorie nennt man das den »Abbau von Komplexität«. Mit diesem Komplexitätsabbau sind wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen ständig befasst, müssen es sogar zwingend sein, denn auf der anderen Seite nimmt die Komplexität unseres gesellschaftlichen Lebens, unserer Technik, der Ökonomie, der weltweiten Probleme aller Systeme und Subsysteme ständig zu. Komplexitätsabbau ist also reine Notwehr, wenn uns das Leben nicht über den Kopf wachsen soll.

Dort, wo dies gelingt, stellt sich aber auch schnell ein großer Nachteil heraus. Wir leben dann nämlich in einer zunehmen reizarmen Umgebung, unser Alltag besteht nur noch aus Wiederholungen, nichts fordert uns mehr richtig heraus, weder körperlich noch geistig, wir sind gegen alle möglichen Gefahren versichert, dass Geld kommt regelmäßig aufs Konto und immer so weiter, Tag für Tag. Plötzlich merkt man, dass man gar keine richtigen Erfahrungen mehr macht. Puh, wie lange geht das schon so, sicher viel zu lange. Und wenn man ehrlich ist, dann weiß man oder ahnt und fürchtet es zumindest, dass auch der nächste Urlaub, der nächste Seitensprung, das nächste neu Auto oder was auch immer daran nichts ändern wird.

Kurz, wir sind gezwungen, uns das Leben verfügbar zu machen und stehen im Ergebnis vor einer völlig verfügbaren gewordenen Welt, die uns verarmt zurücklässt.

Ein Weg, um diesem Prozess etwas entgegenzusetzen, eröffnet uns die Kunst. Das Ziel jeder Kunst ist es, uns die Welt wieder fremd werden zu lassen. Das versteht man vielleicht zuerst nicht, vor allem, wenn man sich daran gewöhnt hat, Kunst als irgendeine Art von Beiwerk zur ständig verfügbaren Freizeitgestaltung zu betrachten. Das ist Kunst aber nicht. Kunst ist immer erstmal das Unverfügbare, das, was man nicht schon kennt, das, was nicht immer gleich ist und sich irgendwie von allein versteht. Kunst ist das, was die Welt wieder fremd und damit hart, fest und real machen kann, was uns etwas erblicken und empfinden lässt, das wir nie zuvor erlebt haben, was dazu führen kann, dass wir wieder bluten, den wirklichen Schmerz fühlen, uns in unserem Körper wieder wahrnehmen.

Wie macht die Kunst das? Ich will hier nur von der Literatur sprechen, Literatur, die den Status als Kunst beanspruchen kann. Dazu gehört auch Lyrik, in den seltenen Fällen, da sie gelingt. Diese Literatur, die quasi den Stein wieder steinig macht, erreicht das durch ihre sprachliche Form, durch ihre Struktur, den Aufbau des Textes und seine sprachliche Komplexität. Und sie verlangt vom Leser, dass er diese Komplexität genauso erlebt und bewältigt, wie er sein wirkliches Leben bewältigen muss. Jemand, der sich solch ein Buch aneignet, wird merken, dass das, was er da tut, echt ist. Das ist kein Zeitvertreib, das ist Konzentration, Arbeit, Denkanstrengung, das ist echte Erfahrung und Erkenntnis. Man geht am Ende aus solch einem Buch heraus und hat eine wirkliche Erfahrung für sein Leben gemacht.

Die meisten Leser wissen vermutlich, dass sie von solchen Büchern noch nicht viele gelesen haben. Da sie sie zudem mit den üblichen Unterhaltungsromanen verwechselt haben, waren sie unvorbereitet und sind sogar gescheitert. Was in der Regel zu dem Urteil führt, dass das an dem Idioten von Autor liegt, der irgendeinen verdrehten Kram schreibt, den niemand versteht und benötigen. Auf diese Weise schließen sich die meisten Leser vom Besten aus, was die Literatur zu bieten hat.

Sie:

So ein seltenes Buch ist Glöcklers Novelle also? Und du bist dafür, dass man sich darauf einlässt?

Er:

Ganz entschieden. Wer das auf sich nimmt, der täte es gewissermaßen Marsden Hartley gleich, der sich nach dem Tod Karl von Freyburgs fragt, was sein Weg noch sein könnte, sogar daran denkt, das Malen aufzugeben, um ins Kloster zu gehen, sich dann aber doch für die Kunst entscheidet.

»Sein Kloster, dachte Hartley plötzlich … wäre, wenn es sein müsste, eine Scheune, ein aufgelassener Hühnerstall, eine, auch das wäre möglich, einsturzgefährdete Bretterbude, der bescheidenste Ort, wenn er Raum hätte, einen Stuhl, eine Staffelei zu stellen, um seine Werke zu schaffen, alleine, ohne Brüder, weil dies seine priesterliche Arbeit wäre, sein, wer weiß, von Gott gegebener Auftrag, nichts anderes würde er sich wünschen, als diesen demütigen Weg zu gehen und seine Pflicht zu erfüllen….«

Sie:

Ich hab das Gefühl, dass du von zwei sehr verschiedenen Arten von Büchern redest.

Er:

Hm.

Sie:

Von zwei verschiedenen Arten von Menschen.

Er:

Hm, auch das.

Sie:

Vermutlich von zwei verschiedenen Welten.

Er:

Und jetzt fragst du dich, welcher davon du angehörst?

Sie:

Das weiß ich schon. Leihst du mir das Buch?

Er:

Nö, Schriftsteller können nicht davon leben, dass sich ihre Leser die Bücher gegenseitig freundlich  herleihen. Bücher kauft man. Hier sind die Daten:

 

Ralph Roger Glöckler, »Luzifers Patenkind, Eine Marsden-Hartley-Novelle«, Grössenwahn Verlag, ISBN 978-3-95771-303-2, Tabu, 222 Seiten, Euro 13,00