Max Nettlaus Erben
Bestandsaufnahme zu Periodika der Anarchismusfoschung und Rezension der Ne znam
Dem Anarchismus haftet – zumindest im universitären Umfeld – noch der Geruch von Schwefel an. Er wird verteufelt und mit Terror gleichgesetzt. Seine Anhänger werden als naive Randgruppe ohne historische und soziale Bedeutung abgetan. Die akademische Beschäftigung mit ihm und seinen ProtagonistInnen gilt eher als Makel denn als Zier wissenschaftlichen Forschungsdranges – zumindest in vielen Teilen der Welt. Während in den romanischen Ländern die Anarchismusforschung sich bereits in Ansätzen etabliert hat und alleine Italien mit knapp einem halben Dutzend Periodika in diesem Bereich aufwarten kann, was auf Grund der Sprachbarrieren im Rest der Welt kaum wahrgenommen wird, und auch in Frankreich eine akademische Auseinandersetzung mit Anarchismus möglich ist, tut sich nicht nur der Rest Europas schwer damit. Es gibt es zwar noch die an der Universität Loughborough angesiedelte Zeitschrift Anarchist Studies (seit 1992) und die in Montreal herausgegebenen Perspectives on anarchist theory (seit 2006) sowie das Onlinejournal Anarchist Developments in Cultural Studies (seit 2010), aber die Reichweite und Verbreitung sind gering. Im Vergleich zur romanischen Welt sind diese Publikationen auch noch relativ jung.
Im deutschsprachigen Raum ist die akademische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex weitgehend eine Domäne der HistorikerInnen. Über ein Jahrzehnt diente freiheitlichen HistorikerInnen der Rundbrief freies Schaffen (1991-Anfang der 2000er) dem Austausch und der Kommunikation. Weiterhin boten bislang vor allem die Fachzeitschriften Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), deren Herausgeber der anarchistische Historiker Andreas Graf (+) war, sowie das unregelmäßig erscheinende Archiv für die Geschichte der Arbeit und des Widerstandes (AGAW) (seit 1980).
Ebenfalls dem historischen Kontext zuzuordnen ist die seit 2011 beim Verlag AV erscheinende Zeitschrift SyFo-Forschung- und Bewegung vom Institut für Syndikalismusforschung, die in der Zeitschrift neben Dokumenten aus der Bewegung auch Forschungsergebnisse publizieren. An diesem Zeitungsprojekt gab und gibt es zahlreiche Kritikpunkte, was den wissenschaftlichen Zugang zur Thematik angeht.1
Daneben war und sind es vor allem Zeitschriften zu einem einzelnen Autoren- meist von philosophischen und literarischen Gesellschaften herausgegeben -, die ein Forum für die Forschung boten und bieten. Zu nennen sind in diesem Kontext die Schriften der Erich Mühsam Gesellschaft (seit 1989), Erkenntnis. Zeitschrift der Pierre Ramus-Gesellschaft (seit 1993), Der Einzige. Jahrbuch der Max Stirner Gesellschaft (2008-2014), Hinter der Weltstadt (seit 1996) und der Bakunin Almanach (2007).
Einen neuen Versuch, eine Zeitschrift für Anarchismusforschung zu starten, hat Philippe Kellermann nun mit der Zeitschrift Ne znam (kroatisch für ich Weiß es nicht) unternommen. Eine solche Zeitschrift ergibt sich sicherlich aus seinem bisherigen Engagement und seinen vielen Veröffentlichungen zum Anarchismus fast schon zwangsläufig. Kellermann selber gibt sich bezüglich seines Projektes bescheiden. « Ob die Zeitschrift, die durchaus mit Bedacht den Begriff ‘Anarchismusforschung’ in ihrem Titel trägt, diesen Anspruch einzulösen vermag, werden die Lesenden und Rezipierenden zu entscheiden haben. » (S. 1).
Den Auftakt der ersten Aufgabe bildet eine Übersetzung eines von Elisée Reclus 1901 geschriebenen Briefes an die Redaktion Huelga General (S. 3-5), welcher nur notdürftig mit bibliographischen Angaben eingeführt ist. Eine historische Einordnung fehlt leider, so dass der Brief etwas unvermittelt erscheint. Ergänzend ist ein Beitrag des amerikanischen Autors John Clarks (« Elisée Reclus – Die Menschheit, die Natur und das anarchistische Ideal », S. 68-81) im Heft zu finden, der sich Elisée Reclus widmet. Es ist ein interessanter und gut geschriebener Beitrag. Clarks kommt aus einer anarchistisch-kommunitaristischen Ecke und ist der Verfasser einer Vielzahl von Beiträgen zu anarchistischer Theorie. Sein Schreibstil ist sehr locker und lässig, entbehrt aber nicht den Kenntnissen der Materie. Sein Fokus ist allerdings auf einen anderen Text Reclus’ bezogen und trägt auch nicht zum besseren Verständnis jenes, hier abgedruckten Textes bei.
Trotzdem ist es gut und wichtig, dass Reclus, der in der ersten Internationale einer der Gesandten der französischen Sektion war, später an der Pariser Commune teilnahm und für die rationalen Schulen des spanischen Pädagogen Francisco Ferrer die Geographie-Bücher verfasste, im deutschsprachigen Raum wieder wahrgenommen wird. In Frankreich gehört die Kenntnis seines Namens zur Allgemeinbildung und seine mehrbändige Universalgeographie ist in vielen Antiquariaten erhältlich.
Von großem Interesse ist auch der Beitrag Florian Eitels über das Lied « Le Drapeau Rouge » (S. 62-67), ein anarchistisches Kampflied. Dabei ist allerdings anzumerken, dass dieser Beitrag lediglich ein leicht überarbeiteter Wiederabdruck eines erst 2014 erschienen Artikels ist.
Die Idee eines von Philippe Kellermann selbst moderierten Gesprächs zwischen Oskar Lubin und Gabriel Kuhn über den Zustand anarchistischer Theorie ist sicherlich für eine wissenschaftliche Zeitschrift eine ungewöhnliche, aber interessante Annäherung. Das Gespräch bietet ein paar Denkanstöße und ließe sich vielleicht als feste Rubrik in kommenden Ausgaben etablieren. So diskutieren die beiden Autoren u.a. Defizite in der aktuellen anarchistischen Theorie.
Beim Beitrag von Peter Bescherer über « Anarcho-Populismus gestern und heute » (S. 21-38) kommt man ins Kopfschütteln. Der Versuch vom Populismus der AfD zum Lumpenproletariat überzuleiten bleibt unverständlich und die der Gebrauch des Begriffs Anarchismus im Verständnis eines monolithischen Blockes ist für eine Zeitschrift für Anarchismusforschung jenseits von gut und böse. Der Ansatz, die Bedeutung des Lumpenproletariats in den Theorien des Anarchismus und Kommunismus gegenüberzustellen ist sicherlich legitim; ebenso der Rückgriff auf Bakunin – aber Max Stirner? « Die Anarchisten Bakunin und Stirner hielten die Arbeiterklasse nicht für den einzigen und wichtigen Träger einer sozialen Umwälzung zugunsten einer herrschaftsfreien Welt » (S. 27). Er wirkt völlig fehl am Platze und die Lesart Bescherers macht deutlich, dass er ihn auch nur oberflächlich gelesen hat und absolut nicht verstanden hat. Stirner geht es weder um soziale Umwälzung noch um die Arbeiterklasse als solche. Erich Mühsam, der zumindest zeitweilig das Lumpenproletariat als revolutionäres Subjekt betrachtete, taucht in der Analyse gar nicht auf. Hier wäre sicherlich eine gewisse Relevanz vorhanden gewesen.
Ebenso lässt Bescherer in Bezug auf die Verbindung von Anarchismus und Populismus ein wichtiges Bindeglied außer acht, was er eigentlich nach seiner Lektüre von Karin Priesters Standardwerk kennen müsste – die russischen Sozialrevolutionäre, in deren Kontext der Begriff ursprünglich geprägt wurde. Einfach nur ärgerlich….
Im Bereich « Historische Dokumente » findet sich ein kommentierter und annotierter Brief Pierre Ramus über Landauers Sozialistischen Bund. Das ist nicht nur von der Thematik her ein echter Juwel, sondern wurde auch von Siegbert Wolf in gewohnter Weise sehr gut bearbeitet. Hier liegt sicherlich noch einiges an Potential für weitergehende Forschungen.
Der Rezensionsteil ist unverhältnismäßig hoch – neben dem eigentlichen « Rezensionsbereich » (S. 123-151) sich auch die Beiträge von Jens Kestner (« Symbolische Macht und Instrumente der Freiheit », S. 39-48) und Gerhard Hanloser (« Zur Kritik der neueren anarchistischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Zionismus und Israel », S. 49-61) Rezensionscharakter haben. Bemerkenswert ist, dass auch nicht deutschsprachige Titel rezensiert werden, auf die man in Deutschland nicht unbedingt immer stößt. Das Niveau der Rezensionen schwankt allerdings qualitativ stark. Hanlosers Beitrag spiegelt sehr fundierte Kenntnisse der besprochenen Materie wieder, während Werner Portmanns Rezension zu zwei Proudhon-Neuerscheinungen einzelne Ungenauigkeiten und unreflektierte Floskeln enthalten. Letzterer postuliert u.a.: « Der Philosoph, Soziologe und Pamphletist Pierre Joseph Proudhon ist im deutschen Sprachraum ein nahezu Unbekannter geblieben. » (S. 123). Dem ist entgegenzuhalten, dass Proudhon alleine schon durch die Rezeption Richard Wagners und auch durch die von Karl Marx doch breiteren Schichten bekannt ist. Weiterhin ließe sich noch die durch Silvio Gesell geprägte Proudhon-Rezeption einwerfen oder der politikwissenschaftliche Diskurs der 70er Jahre um die Frage des Föderalismus, bei dem Proudhon häufig angeführt wurde.
Die Initiative für eine Zeitschrift für Anarchismusforschung ist auf jeden Fall zu begrüßen und zu unterstützen. Ich habe allerdings meinen Zweifel, ob es-in solches Projekt als « Ein-Mann-Projekt » Sinn macht. Auch wenn Philippe Kellermann sicherlich ein guter Kenner der anarchistischen Theorie und Geschichte ist, ist das Forschungsfeld zu breit als dass er alles adäquat überblicken kann. Zu dem ist der Aufwand, eine halbjährlich erscheinende Zeitschrift mit qualitativen Anspruch herauszubringen, für eine Person utopisch. Hier wäre die Frage, ob das Projekt nicht mittelfristig von einem Redaktionskollektiv übernommen werden sollte, um dem Anspruch gerecht zu werden.
Was den halbjährlichen Rhythmus angeht, frage ich mich, ob die deutschsprachige Anarchismusforschung derzeit genügend qualitativen Output liefert, der diesen Turnus ermöglicht.
Klären sollte er auch, ob es sinnvoll ist, Nachdrucke aktueller Artikel ins Heft aufzunehmen oder ob er es wie die Graswurzelrevolution hält und auf Exklusivbeiträge setzt.
Die von Kellermann gewählt Rubriken erscheinen mir schlüssig und gut. Die moderierten Gespräche halte ich für eine sehr interessante Herangehensweise, die er vielleicht fortsetzen sollte. Ergänzend wäre vielleicht noch eine regelmäßige Zeitschriftenschau in Bezug auf Anarchismusforschung relevant (deutsch / englisch / französisch / spanisch) sowie ein Verzeichnis von (wichtigen) Neuerscheinungen aus dem Bereich. Gegebenenfalls ließen sich auch noch Tagungsberichte einfügen. Gerade im Juni hat in Berlin wieder eine Konferenz zum Thema « Anarchismus und techne » stattgefunden.
Maurice Schuhmann
Ne znam. Zeitschrit für Anarchismusforschung, herausgegeben von Philippe Kellermann, Band 1, Verlag AV Lich / Hessen 2015, ISBN: 9783868411362, 155 S., Preis: 12 Euro.