Sahra Wagenknecht hat nicht nur mit ihrem gerade erschienen Buch („Die Selbstgerechten“, campus), sondern seit Jahren mit akribisch genau gewählter Wortwahl rechte Personenkreise angesprochen. Keines ihrer Statements, von „wer das Gastrecht mißbraucht, hat das Gastrecht verwirkt“ bis zum nun erfolgten Satz von den „skurrilen Minderheiten“ war missverständlich.

Ziel ihrer Aktivitäten war stets zweierlei: Zum einen den Anschluss an jene Wählerschichten zu erreichen, die sie in Teilen der Wähler von AfD und anderen Gruppen dieser Art vermutet und zweitens die Übernahme aller bürgerlichen Freiheitsrechte als Basis linken Handelns zu verhindern. Die „Nebenwidersprüche“ und „Nebenschauplätze“ können ihr und den mit ihr im Gleichklang handelnden Personen die Tapete sein, nicht aber dürfen die als quasi linksliberaler Identitätskitsch angesehenen Freiheiten zum Fundament werden.

Diese Position hat keine Mehrheit in der LINKEN. Auch wenn die nun erfolgte Wahl auf Platz Eins der Landesliste von NRW es anders aussehen lässt. Selbst im Landesverband NRW dürften die Aussagen Wagenknechts nicht mehrheitsfähig sein. Aber: Sahra Wagenknecht ist durch die ständige Medienpräsenz zu einer Größe geworden, an der schlecht vorbei zu kommen ist. Sie sich wegzudenken, obwohl sie ja in stetigem Fluss abseits des Parteiprogrammes der LINKEN agiert, ist ein Schritt, vor dem sich viele fürchten. Es ist, so meine ich, nicht die inhaltliche Übereinstimmung, die Wagenknecht auf den ersten Platz der Liste von Pott, Sauer- und Rheinland befördert hat, sondern die Angst vor dem, was danach kommt.

Von dieser Angst berichtet schon der Hamlet Monolog, in dem sich der Prinz von Dänemark fragt, ob Suizid nicht eine Option wäre … aber dann:

„Das Grau‘n vor etwas nach dem Tod,
dem unentdeckten Land, aus dessen Grenzen
kein Reisender zurück ins Leben reist,
verwirrt den Willen und macht,
dass wir das Übel, das wir kennen, lieber tragen
als hinzuflieh‘n zu einem unbekannten.
So machts Gewissen aus uns Memmen.
Der angeborne Farbton der Entschlossenheit,
wird kränklich blass durch die Gedanken,
Der hohe Flug der Unternehmung wird gebeugt,
bis man die Tat nicht länger Tat noch nennen kann.“

So ist es auch in diesem Falle: Es ist die Angst, die die Aktion der Nichtwahl verhindert. Nun – es geht quasi um das Gegenteil von Selbstmord: Stets jene wieder zu wählen, die der LINKEN schweren Schaden zufügen, diese kränklich blasse Herangehensweise an die politische Notwendigkeit, die LINKE vor dem politischen Selbstmord zu bewahren, wird im Zweifel enden, wie das Stück endet, Alle sterben in einem letzten Kampf. Auf dem letzten Parteitag, wenn dann die Akteure am den Stichen der vergifteten Degen verendet sind, heißt das finale Wort: „Der Rest ist Schweigen“. Dann fällt der Vorhang.

Dieses Ziel zu wünschen wäre indes ganz und gar falsch. Deshalb muss es, folgt man der Logik, der Lage und der Notwendigkeit, nun heißen: Es ist, wie es ist, aber wie es ist, muss es nicht bleiben. Und deshalb kann man die Situation auch als eine Chance interpretieren. Das sehr, sehr schlechte Wahlergebnis Wagenknechts, von nur gut sechzig Prozent, zeigt: Viele haben schon die Angst verloren der Autorin von auf rechts gedrehten Parolen und Pamphleten entgegenzutreten. Diese Leute verdienen Unterstützung. Da fehlt ja nicht mehr viel.
Deshalb braucht es eine starke Bundestagsfraktion, zum Beispiel auch mit vielen Abgeordneten aus Bayern und anderen Bundesländern, damit sich die Marginalisierung der skurrilen Minderheitsposition Wagenknechts und anderer auch in der Bundestagsfraktion widerspiegelt. Deshalb braucht es aber auch eine starke Landesgruppe aus NRW, denn nach den Spitzenplätzen, also den ersten zehn, elf, kommen ja keine Wagenknechte mehr in großer Zahl. Und deshalb muss es nun heißen: Die LINKE für die eigenen Interessen zu nutzen, die ja allemal die Interessen der Menschen in prekären Beschäftigungen, der Arbeitslosen, der Bittsteller in staatlichen Drangsalierungsanstalten, die Jobcenter heißen, sind.
Lasst uns die LINKE stärken. Lasst uns das zusammen tun. Die Hartz-IV-Empfänger:innen, die Billiglöhner:innen, die Migrant:innen. Sich jetzt abzuwenden ist doch letztlich nichts anderes als Flucht.
Wir, die jenigen, denen man, wie mir als Schriftsteller, durch die Urheberrechtsreform den Lohn kürzt, die jenigen, die als Leiharbeiter schuften, die Mütter und Väter, die Alleinerziehende sind und immer wieder in die Jobcenter befohlen werden, die Schwulen und Lesben, die Migrant:innen. Alle. Wir, die skurrilen Minderheiten: Lasst uns die Mehrheit sein. Und: machen wir denen Mut, den „hohen Flug der Unternehmung“ nicht mehr zu beugen, die diesen Mut noch nicht gefunden haben. Wir brauchen die LINKE. Und sie braucht uns, weil wir sie brauchen. Wir können nicht auf sie verzichten, und sie auch nicht auf uns: Die Arbeiter, die Angstellten, die Selbständigen, die Freiberufler, die Hartz-IV-Empfänger. Und wir sind Menschen in allen Farben, mit allen denkbaren Gendern, mit allen sexuellen Ausrichtungen. Das ist unsere Partei. Wir lassen sie uns nicht stehlen.

 

Foto: rihaij