Anlässlich des 200. Todestages von D. A. F. de Sade erschien in den USA der gemeinsam von Kate Parker und Norbert Sclippa herausgegebene Sammelband „Sade’s Sensibilities“. Acht Beiträge widmen sich der aktuellen, interdisziplinären Bedeutung von de Sades Oeuvre. Einige der BeiträgerInnen sind alte Bekannte wie z.B. John Philipps aus Grossbritannien, der u.a. eine Einführung zu Sade für den englischsprachigen Raum verfasst hat („How to read Sade?“), Caroline Warman („Sade – from materialism to pornography“) oder Mladen Kozul („Le corps erotique au XVIII Siecle“). Sclippa selber hatte bereits 2003 an der Universität Charleston (USA) eine interdisziplinäre Fachtagung zu Sade organisiert und die Beiträge unter dem Titel „Pour Sade“ bei der Edition L’Harmattan publiziert. Er betreibt darüber hinaus auf Facebook eine dem wissenschaftlichen Austausch dienende Marquis de Sade-Page (https://www.facebook.com/sclippan?fref=ts).
Das Anliegen des Sammelbandes ist dabei nach Aussage von Kate Parker, einer der beiden Herausgeber, ein Doppeltes. Sie bemerkt im Vorwort: “This volume interrogates Sade’s libertinage both as a twentieth-century critical construct and as an eighteenth-century precept.” (5) Die Herausgeber verorten sich dabei in einer Reihe von neueren Ansätzen der Sade-Forschung, die sich in den letzten Jahren im französischen Sprachraum herauskristallisiert haben. Namentlich ist hier der Versuch von Eric Marty („Pourquoi le XXe siècle a-t-il pris Sade au sérieux?“) zu nennen, der die Bedeutung Sades für unsere Gegenwart vor dem Hintergrundeiner Untersuchung der Rezeptionsansätze des 20. Jahrhunderts konstatiert.
Die Beiträge in „Sade’s Sensibilities“ unterteilen sich in zwei Bereiche –
I. Thinking, Feeling, Reading Sade
II. In Pursuit of D. A. F. de Sade
Parker erläutert auf diese bezogen: “Accordingly, Sade’s Sensibilities addresses the intersections between these two very different approaches to contemporary Sadean studies in two parts. Part I: Feeling, Thinking, Reading Sade contextualizes Sade through concepts like the “apathetic,” the “radical,” the “carnivalesque” and the “perverse”—all concepts that have traditionally informed scholarly approaches to understanding Sade’s work—but guide these readings towards exciting new insights. (….) In Part II: In Pursuit of D.A.F. de Sade, the essays offered reconsider Sade as a product of his time and as a philosopher of the Enlightenment.“ (10; 13).
Sade wird in diesem Kontext als ein wichtiger Vertreter der europäischen Aufklärung rezipiert, dem sich vorrangig über einen literaturwissenschaftlichen Zugang genähert wird. Wie so häufig in der gegenwärtigen Sade-Forschung wird damit das Terrain weitgehend der Literaturwissenschaft überlassen.
Im ersten Teil finden sich zwei Beiträge von und mit Reflexionen über die Lesarten von Sades Philosophie dans le Boudoir, jenem philosophisch-pornographischen Dialog, den er in den Zeiten der Revolutionswirren verfasste und der durch die explizite Verbindung von staatstheoretischem Diskurs und pornographischen Dialog eine Lektüre zu einer Herausforderung macht. Spannend erscheint in diesem Rahmen auch die von der in Brasilien Literaturwissenschaft lehrenden Eliane Robert Moraes aufgeworfene Frage, wer der Sade vorschwebende Leser seiner Philosophie gewesen sein könnte. Dieser hatte selber in der Philosophie im Boudoir und in der Histoire de Juliette postuliert, dass er nur für Menschen schreibe, die ihn verstehen könnten. Des Weiteren eine Untersuchung des Naturkonzepts Sades im Kontext des Diskurses der französischen Aufklärung von Norbert Sclippa und eine Lesart des Konzepts der Ehe, die bei Sade in den 120 Tagen von Sodom als Pakt zwischen seinen Libertins zum Tragen kommt, im Kontext der Vorstellung von Intimität – kontextualisiert mit der (englischen) Novelle des 18. Jahrhunderts von Christopher Nagle and Courtney Wennerstrom, wobei sich die beiden Autoren auch den häufig vernachlässigten Fabeln und Kurzgeschichten widmen.
Der zweite Teil beginnt mit einem Text von Caroline Warman über die vielschichtige Figur des Philosophen in Sades Oeuvre, die in der bisherigen Rezeption trotz ihrer zentralen Stellung in seinem Werk kaum gebührende Beachtung gefunden hat. Natania Meeker präsentiert eine biopolitische Lesart Sades vor dem Hintergrund von ökonomischer und ökologischer Krise. Mladen Kozul hingegen betrachtet Sades Rezeption medizinischer Theorien und Diskurse seiner Zeit. Mehrere der Sade’schen Libertins sind Ärzte und auch zeitgenössische Anwendungen – wie z.B. der Aderlass – kommen im Werke Sades an prominenter Stelle zum Zuge. Mit dem Beitrag „The Marquis, the Monster and the Scientist“ von Will McMorran klingt der zweite Teil aus. Er zeichnet nach, wie der aktuelle Diskurs über weitere Strecken denen der ersten Welle, d.h. der durch die Sexualwissenschaft initiierten Diskurs folgt.
Bei dem Beiträgen „Obscenity off the Scene“ von John Phillips und „The Figure of the Philosopher in Sade“ von Caroline Warman handelt es sich allerdings leider um Wiederveröffentlichungen von bereits ein paar Jahren vorher in englischer bzw. französischer Sprache publizierten Texten. Für einen Sammelband mit acht inhaltlichen Beiträgen ist das schon ein extrem hoher Schnitt an Wiederveröffentlichungen.
Die AutorInnen des Bandes greifen zwar vereinzelt fast schon klassische Themen der Sade-Rezeption auf – wie z.B. den Aspekt der Natur oder der sexualwissenschaftlichen Lesart, aber doch gelingt es den Verfassern, neue Gesichtspunkte dessen herauszuarbeiten. Erstaunlich ist, dass unter den BeiträgerInnen sich mit Ausnahem von Kozul niemand aus dem aktuellen französischen Sade-Rezeptionskanon wiederfindet. Sie beziehen sich auch nur am Rande auf den dort geführten, neueren Diskurs über das Werk Sades. Dies ermöglicht ihnen auch einen etwas anderen, teilweise sehr erfrischenden Blick auf Sade und sein Werk.
Maurice Schuhmann
Kate Parker / Norbert Sclippa (Ed.): Sade’s Sensibilities, Bucknell University Press, 2014, Preis: 61,50 Euro, ISBN: 978-1-61148-646-9, 222 S..