Ein guter erster Einstieg

In der schwarzen Theorie-Einführungsreihe vom Schmetterling haben Anna-Myrte Palatini (studierte Kulturwissenschaftlerin und Psychologin) und Sebastian Bischoff (studierter Historiker, Soziologe und Philosoph) eine historisch-politische Einführung in sexuelle Revolutionen verfasst. Es ist ein wichtiges – und zweifellos umfangreiches – Thema, was in einer Einführung nur sehr punktuell behandelt werden kann. Sie fokussieren sich daher wie folgt: „Diese historisch-politische Einführung in die Geschichte der ‚sexuellen Revolutionen‘ will den Auseinandersetzungen um sexuelle Repressionen uns rechtliche Gleichstellung, Selbstbestimmung und Anerkennung von Frauen sowie sexuellen und Gender-Minderheiten nachspüren, die seit der Neuzeit bis zur zweiten ‚sexuellen Revolution‘ um 1968 in wiederkehrenden Wellen, mit unterschiedlichen politischen Zielen, unter differierenden Losungen und auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen geführt wurden“ (S. 7). Ich kann schon mal spoilern – diesen hohen Ansprüchen werden sie nicht immer gerecht. Ihr Zugang ist dabei, wie sie selber in der Einleitung erklären, von der Einteilung des Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigursch geprägt. Einen bedeutenden Strang macht in diesem Kontext die freudo-marxistische Tradition (Karl Marx – Sigmund Freud – Wilhelm Reich – Marcuse – SDS) aus. In Bezug auf Freud wäre vielleicht noch eine kurze Thematisierung der feministischen Kritik an ihm von Relevanz. Während z.B. der französische Autor Denis Diderot für seine abwertende Darstellung von weiblicher Homosexualität zu recht gerügt wird, kommt Freud ungeschoren davon.

In einem theoretischen Einleitungskapitel, wo u.a. der Begriff „Sex“ näher bestimmt wird – stark freudianisch geprägt – und dem der sexuellen Revolution. Der letztere wird in Bezug auf letztere in Bezug auf 1968 im Sinne der damaligen linken Szene wie folgt gefasst: „Die ‚sexuelle Revolution‘ ist in diesem Sinne als Ausdruck und Resultat der Durchsetzung der wert- bzw. warenförmigen Vermittlung der sexuellen und geschlechtlichen Sphäre zu beleuchten, meint dabei mehr als das Offensichtliche, die um die 1960rt Jahre einsetzende massive Medialisierung und Kommerzialisierung des sexuellen Reizes“ (S. 26). Es folgt ein Kapitel über diverse, vermeintliche Vorläufer der ersten sexuellen Revolution um 1900 – namentlich Molly Houses, Charles Fourier, die Kommune Oneida und die Hellfire Clubs. Die Darstellung des sagenumwobenen, britischen Hellfire Clubs – unvergessen ist hier die Darstellung in der TV-Serie „The Avengers“ – erscheint mir etwas fraglich. Sicherlich muss man nicht der offiziellen, grundlegenden Verdammung dessen folgen, aber sie deswegen gleich zu einem emanzipatorischen Projekt zu verklären, in dem auch schwule Emanzipation gelebt wurde, kann auch nicht die richtige Antwort darauf sein. Diese werden von den beiden Autor_innen als Vorläufer der sexuellen Revolution gefeiert. In einem dritten Kapitel geht es – wiederum Sigursch folgend – um die erste sexuelle Revolution. Diese wird anhand der frühen Arbeiter_innen- und Frauenbewegung (proletarisch und bürgerlich) und der eng mit der homosexuellen Bewegung assoziierten Entstehung der Sexualwissenschaft sowie der SexPol-Bewegung von Wilhelm Reich dargestellt. Der Zeitraum reicht von ca. 1900 bis ca. 1933, wo der Aufstieg des Nationalsozialismus einen krassen Einschnitt darstellte. Darauf folgend wird die zweite sexuelle Reform – im Zeitraum von 1945 und 1977 – beleuchtet. Hierbei geht es um die Vorgeschichte von 1968 sowie den Fixpunkt 1968 mit Kommune I und Co.. In Folge dessen formierte sich die zweite Frauenbewegung bzw. zweite Welle der Frauenbewegung, eine eigenständige Lesben- sowie die dritte Schwulenbewegung. Basierend darauf gibt es einen Ausblick auf die „neosexuelle Revolution“.

Ein Problem bei solchen Einführungen ist stets, dass das Thema breit und der Platz sehr beschränkt ist. Viele Themen, die man unter dem Stichwort vermuten würde, kommen deswegen nicht zu Wort. Ich denke hier z.B. an die sexuelle Revolution rund um die französische Revolution, die feministischen Sexwars – inklusive – oder auch den Bereich Fetischismus und BDSM. Einzelne Aspekte fallen wie die Sexwars zeitlich nicht in den Untersuchungszeitraum hinein. Damit fallen viele für heutige Debatten wichtige Themenfelder weg. Vielleicht wären das auch mal Themen für einen zweiten Einführungsband…. Dennoch ist es sicherlich für den ersten Einstieg ein guter, wenn auch partiell lückenhafter Einstieg.

Maurice Schuhmann

Anna-Myrte Palatini / Sebastian Bischoff: <Sexuelle Revolutionen>. Eine historisch-politische Einführung, Schmetterling Verlag Stuttgart 2025, 240 S., ISBN: 3-89657-548-8, Preis: 15 €.