Stefan Heym: Die Architekten

Stefan Heym: Die Architekten

Gesten der Angst

„Er hob sein Glas noch einmal, und jetzt auf die Toten, die vor seinem geistigen Auge vorbeizogen, Schatten ohne Ende, Schatten einer Jugend – wieviel Hingabe an die Sache, wieviel Kraft, wieviel Talent war da vernichtet worden! Und wenn man die Reihen der Opfer verglich mit denen der Überlebenden, begann man zu befürchten, daß da sehr wohl eine Selektion stattgefunden hatte, aber eine negative: Die Mittelmäßigen waren geblieben, während die Köpfe derer, die  besser oder klüger gewesen als der Durchschnitt, abgesäbelt worden waren von den beamteten Nachfolgern des Prokrustes.“ – Daniel Jakowlewitsch betrinkt sich und resümiert seine Erfahrungen mit dem realen Sozialismus der 40er und 50er Jahre; einige seiner besten Jahre hat er in Stalins Lagern verbracht, nun ist Stalin tot, das „Tauwetter“ hat eingesetzt, Daniel ist frei: Nun soll alles anders werden. Er sucht seine Chance, als Architekt sein bestes zu geben für die Neue Zeit, den Sozialismus. Mit großen Hoffnungen und wunderbaren Entwürfen im Kopf kehrt er nach Deutschland zurück, das er zur Nazizeit verließ. Wir ahnen schon am Beginn des Romans, daß dieser Erneuerer einen sehr langen Atem braucht, wenn er nicht scheitern will. Heym fand sich in einer ähnlichen Lage, als er aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte und sich in die politischen Verhältnisse der DDR zu finden hatte. Wenn dieser Daniel spricht, hört man die Stimme des Autors; was Jakowlewitsch in diesem Sozialismus vor hatte, konnte erst post festum triumphieren, genau wie dieses Buch, das in den 60er Jahren der DDR dringend gebraucht worden wäre, doch erst nach deren Ende erscheinen konnte. Es triumphiert, es hatte damals schon recht und hat bis heute recht behalten, dieses Buch. Doch es ist ein trauriger Triumph, denn die Chance, die es ergreifen wollte, ist vertan. „Die Architekten“ ist ein Nachruf geworden, was freilich nicht in der Absicht des Autors lag, ein Nachruf auf einen Sozialismus, in dem die Besten sich entfalten und ihr Bestes geben können. Heym hatte von Beginn den langen Atem des geduldigen Veränderers, er schrieb seine Bücher ohne Rücksicht auf die politische Wetterlage so wahr, so klar, wie er es konnte, veröffentlichte, wo es ging, und wo es gar nicht ging, wie im Falle dieses Buches, schrieb er das nächste und übernächste. Er hat sie alle veröffentlichen können mit mehr oder weniger Verzögerung. Nun hat er das alte Manuskript auch wieder aus der Schublade gezogen, um „vor einem endgültigen Exitus“, wie er im Vorwort schreibt, sein Lebenswerk zu komplettieren.

Es ist der Nachruf auf eine Zeit, in der es um große, wichtige, um Menschheitsdinge ging, wenn die führenden Architekten in Ostberlin um die Gestaltung der Hauptstraße stritten. Der hohe Ton einer klassischen Tragödie bestimmt die zahlreichen Dialoge dieses Romans, ein Ton, der einen Leser befremden mag, der sich so nachträglich nicht auf die Tragödie des europäischen Sozialismus einlassen will, für den dies Projekt einer neuen Gesellschaftsordnung inzwischen endgültig gescheitert ist, der sich vielleicht nie dafür interessiert hat. Das Buch ist für Leser geschrieben, die an dem Projekt mit glühendem Herzen oder auch nur nolens volens beteiligt waren, und es ist zu einer Zeit geschrieben, da der Ausgang zumindest für den Autor noch offen war. Heute ist es ein spannendes historisches Dokument.

Das Ringen um die Entstalinisierung findet in diesem Buch statt als Kampf dreier Männer und dreier Prinzipien um die reine, ideale Frau, um Julia. Und um den Auftrag, die „Straße des Weltfriedens“ zu bauen, die Architektur, sprich Alltagskultur der Zukunft zu entwerfen: den neuen Frieden nach dem großen Krieg. Das Schicksal einer jeden Gesellschaft entscheidet sich daran, welche menschlichen Qualitäten sie fördert; daß der Sozialismus des Ostblocks sich bis zuletzt seiner besten Köpfe selbst beraubt hat, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Als Stefan Heym den Roman schrieb (1963-66), schien es ihm noch lohnend, das Menetekel der negativen Selektion an die Wand zu schreiben, er konnte nicht wissen, daß dieses Buch selbst zu dem aussortierten Besseren zählen würde, das die DDR hervorgebracht hat. Heym hat den großen Roman seiner Zeit verfaßt, der wie ein Ruck hätte durchs Land gehen können, wenn er zugelassen worden wäre als Warnung vor einer versandeten Entstalinisierung, vor einer halbherzigen Aufarbeitung Stalinscher Verbrechen. Warnung vor allem vor einem bestimmten Typus von gefährlichem Machtmenschen, der hätte entlarvt und gleich Stalin vom Sockel gestoßen werden müssen, weil er auch angesichts seiner Untaten nie selbst vom Sockel springen wird. Sundstrom heißt der machthabende Architekt, der kleine Stalin, im Roman, und auch dieser Sundstrom springt nicht vom Gesims seines Hochhauses, als er des Verrats an seinen Freunden überführt ist, die anderen, denkt er sich, sind auch nicht besser und lebt und siegt und architektet weiter. Sundstrom  weiß vieles besser als die Genossen, denen er beflissen recht gibt, er könnte vieles besser machen, wenn er nicht unter den mörderischen Bedingungen des Moskauer Exils zu überleben gelernt hätte, wenn ihm das Überleben nicht über alles andere ginge. Er, der denkbar Unfreie, soll eine befreite Menschheit behausen. Was dabei herauskommt, ist jene „Heuchelei in Stein“, die man der ostberliner Stalinallee nachsagte. Als Daniel aus dem sowjetischen Lager nach Ostberlin  kommt, und seine innere Freiheit dagegen stellt, gehört Sundstrom plötzlich zum alten stalinistischen Eisen. Doch statt vom Gesims seines Hochhauses zu springen, macht er mit Hilfe seiner mächtigen Genossen doch lieber weiter wie bisher, ragt mit seinen beklemmenden, kitschigen Bauten und seiner schleimig-intriganten Art in den Aufbruch der Jungen, in eine Zeit, die nicht mehr die seine ist. Er verliert Julia, bleibt aber an der Macht: der falsche alte Mann als Gatte einer jungen Frau Welt. Eine tragische Figur und Symbol der Tragödie („Sundstrom, der Gatte, der Vater, der Künstler, der Kommunist; der Mann vor ihr stand enthüllt in der ganzen Jämmerlichkeit seiner Ängste, Angst vor ihr, vor seinen Genossen, vor sich selber: ein Phrasendrescher, machtbesessen, feige, ein kleiner Tyrann, der die Welt anheulte, weil sie nicht länger vor ihm und seinem Diktat das Knie beugte“). Der zweite Bewerber um Julia spielt den Clown, den Liebhaber und schwachen Charakter, dieser John Hiller läßt so den Dritten um so deutlicher hervorragen mit seinem in Stalins Lagern gereiften Gewissen, seiner Würde, seiner Zärtlichkeit für Julia: Daniel gewinnt zuletzt die Frau aus Fleisch und Blut, nicht aber die Frau Welt, nicht den von der Partei manipulierten Wettbewerb um die „Straße des Weltfriedens“. Dennoch sagt er die Hoffnungs-Sätze dieses Buches, die heute  wiederum tragisch anmuten: „Der Sozialismus ist eine so logische, vernünftige Sache, daß keiner, selbst nicht der größte Schuft und Narr, ihn umbringen kann. Immer wird es auch die anderen geben: die Schöpferischen. Und diese sind in der Mehrheit und lassen sich auf die Dauer nicht unterdrücken.“

Ein zweiter tragischer Strang ist die Tatsache, daß Julia Sunstroms Ziehkind ist, er hat sie aus dem Waisenhaus geholt, nachdem ihre Eltern auf seinen Wink hin von der Geheimpolizei verhaftet wurden, er hat sich in sein „Geschöpf“ verliebt und mit Julia einen Sohn gezeugt, der den Namen ihres Vaters trägt (Sundstrom zu Julia: „Ich habe deine Gefühle doch beobachtet seit ihrer ersten Regung!“). Die Geschichte verweist auf einen perversen Zug im Verhältnis der Bonzen zum Nachwuchs, zu „unserer Jugend“, wie es hieß, die unter ihren väterlichen Händen und ihrer geheimen Beobachtung zu Neuen Menschen geformt werden sollte. Die Hybris dieses zweiten, postnatalen Schöpfungsaktes wird von Heym als eigentliche Ausbeutung und Fesselung der Jugend, der Zukunft entlarvt.

Eine drittes tragisches Moment ergibt sich aus der Zeit, die zwischen der Entstehung und er Veröffentlichung des Romans verging. Als Heym das Buch schrieb, konnte er nicht wissen, daß die darin mahnend beschworene Negativ-Selektion bis zum letzten Tag der DDR nicht ab-, sondern noch zunehmen würde. Daß die Gesten der Angst, die er aus eigener Zeitgenossenschaft sehr genau beschreibt, sich wohl verändern, aber das Verhalten der DDR-Insassen bis zu dem Gestammel der Montags-Demos hin dominieren würden. Im Gespräch mit dem großen Vorsitzenden unterwirft sich der geschlagene Sundstrom zuletzt noch einmal, um etwas von dessen Macht abzubekommen und damit weiter herrschen zu können, er „drückte seine flach aneinandergepreßten Hände zwischen seine Knie, sein Gesicht, seine Schultern, alles an ihm schien schmaler zu werden; er wurde zum Bittsteller, zum Sünder, zur personifizierten Selbstkritik.“ Die DDR hat über sich selbst wenig dazulernen können, weil Bücher wie dieses nie ihren öffentlichen Raum erreicht haben. Als Beschreibung der wesentlichen Konflikte der DDR-Gesellschaft ist das Buch nicht veraltet, weil diese Konflikte über Jahrzehnte nicht gelöst wurden, weil etwa die Frage nach der Würde des Menschen, die Heym hier stellt, auch zu einem Schlagwort der friedlichen Revolution wurde. Das Buch bezieht sich auf eine konkrete historische Situation, in der die Bedrohung des keimhaften Neuen durch das etablierte Alte groß in den öffentlichen Raum hätte gestellt werden müssen, es hat sich nicht erledigt, weil die damaligen DDR-Verhältnisse in ihrem Wesen bis zuletzt konserviert worden sind.

Spannend bleibt das Buch bis zur letzten Seite, weil von Beginn die Gespenster der Vergangenheit umgehen, die ketzerischen Vergleiche der „Straße des Weltfriedens“ mit Nazi-Planungen für „Germania“, die verdrängten Verbrechen der Stalinära, die nach und nach, auch in Gestalt Daniels, zu Vorschein kommen und Sundstrom ratenweis in Panik versetzen. Erst als man ihm seine Schuld am unschuldigen Tod von Julias Eltern schriftlich unter die Nase hält, stammelt dieser Sundstrom ein paar ehrliche Sätze, keiner, sagt er, verstehe den langsamen Verfall eines Menschen, „der anfängt mit einem Schweigen, wo er widersprochen, einem Kopfnicken, wo er protestiert haben sollte. Wann das anfing? Wer weiß. Wann hast du dir zum ersten Mal gesagt: Dies ist zu nebensächlich, um darum Lärm zu schlagen? Oder: Soll doch ein anderer sein Maul aufreißen?…“ In dieser kleinen Rechtfertigung, in höchster Not gestammelt, liegt etwas sehr aktuelles. Die kritische Selbstbefragung, das sich selbst verletzende Eingeständnis ist von niemandem leicht zu haben, es steht am Ende großer, gründlicher, existenziell bedrohlicher Auseinandersetzungen. Diese reinigenden Auseinandersetzungen, wie wir sie aus den großen Tragödien kennen, waren wohl zur Zeit jener halbherzigen Entstalinisierung eine ebensolche Ausnahme wie sie es in unseren lauen Nachwendejahren sind.