Die Lyrik Patricia Falkenburgs

Erlauben Sie mir zuerst über eine ganz junge Künstlerin zu sprechen, über eine großartige Komponistin, die schon mit sechs Jahren ihre erste Klaviersonate auf Notenblätter schrieb und das erste Violinenkonzert mit neun Jahren erschuf, erlauben Sie mir von Alma Deutscher zu sprechen, es erscheint mir wichtig zu sein, sie zu erwähnen. Denn vielleicht hat ein kurzes Interview mit ihr eine Gravitation entwickelt, die sich auch auf die Dichtung auswirkt. Nicht nur hier, Deutscher lebt in Österreich, stammt aber aus Großbritannien, sondern vielleicht weltweit: Bei einer Aufführung ihres Sirenenklänge-Walzers in der Carnegie Hall nahm sie zu den Kritiken Stellung: „Ich wollte schon immer schöne Musik schreiben, Musik, die aus dem Herzen kommt und direkt zu dem Herzen spricht. Ab

Patricia Falkenburg, Foto Isa Falkenburg

Patricia Falkenburg, Foto von Isa Falkenburg

er manche Leute haben mir gesagt, dass Melodien und schöne Harmonien in der ernsthaften klassischen Musik heutzutage nicht mehr akzeptabel sind, weil Musik im 21. Jahrhundert die Hässlichkeit der modernen Welt widerspiegeln muss. Nun, in diesem Walzer habe ich statt zu versuchen, meine Musik künstlich hässlich zu machen, um die moderne Welt widerzuspiegeln, genau das Gegenteil getan. Ich habe einige hässliche Klänge aus der modernen Welt genommen und sie durch Musik in etwas Schöneres verwandelt.“ (Wikipedia). Damals war Alma Deutscher fünfzehn Jahre alt. Ihre Art zu komponieren bedeutet einen Bruch zu schaffen, zwischen jener sinnsuchenden, disharmonischen Komposition und einer, vielleicht radikal zu nennenden, Renaissance der (Wiener) Klassik.

Ich habe bei der zuvor erschienenen Rezension über das neue, ebenfalls bei den Kulturmaschinen erschienen Buch von Ralph Roger Glöckler bereits hervorgehoben, dass ich ihn in der klassischen Moderne eher verorten möchte, als in der Postmoderne, dass ich enge Verwandtschaft zugleich sehe, aber eben nicht als gesondertes Element (das wäre dann postmodern), sondern als originären Teil der Modernität, mit dem magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur.

Schauen wir auf die Lyrik junger englischsprachiger Lyriker:innen, z.B. auf Amanda Gorman (USA), Len Pennie (Schottland), Elle Cordova (USA), Celia Martinez (USA/Mexico) und der vielen anderen, die in den letzten zweidrei Jahren begonnen haben, die Lyrik im Sinne einer Renaissance aufzumischen, so finden wir in den Werken jenes, was die Kritik an Alma Deutscher formuliert hat: Die Schönheit als Träger des Brutalen, Traurigen, Verletzten und Verletzenden, Verstörten und Verstörenden. Das ist, wie bei den Kompositionen Deutschers, eine Rückkehr zum Glauben an die Tragfähigkeit des melodischen Flows, der Metrik, der Formensprachen. Und zugleich ist es progressiv, ja vielleicht avantgardistisch, weil es sich völlig davon löst, dass die Form als pädagogische Umverpackung auf den Inhalt anders hinzuweisen hätte, als ihn zu tragen.

Und nun liegen beim Kulturmaschinen Verlag, dem wir verbunden sind (das der guten Ordnung halber hinzugefügt) zwei Lyrikbände von Patricia Falkenburg vor, die ganz wunderbar hineinpassen in diese gute Entwicklung.

Falkenburg ist Molekularbiologin, sie arbeitet in der Forschung. Es ist vielleicht ein Quäntchen Kafka darin, bei einem solchen Berufe Lyrik zu schaffen, eine Lyrik zu schaffen, die dermaßen sich hingibt an, zugleich, Wirklichkeit und Reminiszenz.

Niemandslieder / Odyszenien

Im Vorwort zu „Niemandslieder / Odyszenien“ heißt es: „Odyssee lesen! Auf die Stimmen hinter dem Text hören. Daneben. Darunter und darüber. Denen zuhören, die ihre eigene Geschichte erzählen wollen, wieder und wieder: Penelope, Eurykleia, Kalypso, Telemachos, Eumaios. Schiffe schleichen an Küsten entlang, Polyphem zählt Schafe und Niemand entkommt. Eine Phönizierin sinnt auf Rache und geht dabei zugrunde, aber ein Kind wird entführt. Und wovon träumen die Sirenen?“

Falkenburgs Gedichte darin aber machen den Bogenschlag, bringen in schönsten Worten und klingenden Zeilen die Odyssee ins Jetzt:
Im Gedicht „Das Volk schweigt.“ heißt es:

Man hat sie zusammengerufen.
Wozu weiß niemand. Ist ihnen auch
Gleichgültig. Aber wie immer
Gibt es ein buntes Schauspiel.
Willkommene Abwechslung von der
Täglichen Plackerei. Die besten Plätze
Sind natürlich besetzt. Aber
Welch ein Schauspiel.
All die hohen Herren, lautstark.
Stinken in ihrer Überheblichkeit
Wie das liebe Vieh. Gut zu begaffen.
Mittendrin der Kleine. Armer Wicht.
Dünkt sich auch was Besseres
Und ist doch nach all dem Geprasse
Auch nur ein armer Schlucker.
Beklagt sich. Wie er sich beklagt.
Sieht aus. Fast wie sein Vater.
Ungerührt genießen sie die
Aufführung. Geht sie ja nichts an.
Wer aufmuckt, frisst Dreck. So war es
Schon immer.

Es gehört zum inneren Zyklus „Am Platz Agora“. Entlang an der Neuübersetzung der Odyssee durch Kurt Steinmann (Manesse-Verlag 2007) reisen wir mit Falkenburg durch die Dichtung Homers. Und welch eine großartige lyrische Reise bietet uns die Dichterin?

Ich webe mir Wind ins Haar.
Meine Sohlen verlaufen sich
Mit der Gischt
Löst sich mir
Mein Gestern ins Morgen auf.
Nie hat die Zeit weniger Gewicht
Als im Atem des Meeres.
Der kündet von Totenklagen, die
Durch Kettfäden schießen.
Zum Tuch reicht oft
Eine taumelnde Erinnerung.
Das kleidet die Leiber gut
Genug zum langen Schlaf.
Ich webe ins Haar mir den Wind
Und ziehe mit den Wolken zum
Wetterleuchten überm Gebirge.
Meine schartigen Sohlen
Löscht sich die Gischt.,

heißt es auf den Seiten, die den „Webermägden“ gewidmet sind.

… in unsern Mündern lodern Zungen
Gedichte in Zeiten des Unfriedens

ist das zweite Buch von Patricia Falkenburg betitelt. Und nun verwendet sie die Sicherheit bei der Konstruktion ihrer Dichtung auf die Relation des einzelnen Menschen mit seiner vielgestaltigen, vielverängstigenden Umwelt.

„Gab es jemals in der Geschichte der Hominiden anderes? Bei genauem Hindenken wohl eher nicht. Dennoch erfasst uns, die wir im westlichen Europa kuschelig in unserem Wohl- und Besitzstand eingenistet sitzen, die jüngste Vergangenheit mit unerwartetem Grauen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 führt uns erneut die Zerbrechlichkeit unserer Existenz vor Augen – als seien die Bedrohlichkeit des Klimawandels und der Umweltvernichtung, als sei die existenzielle Bedrohung durch nicht zu zügelnde Seuchen nicht schon apokalyptisch genug.“ Stellt sich im Zwiegespräch mit sich selbst das Vorwort die Frage nach den Zeiten des Unfriedens und beantwortet die Frage mit einem deutlichen Nein.
Falkenburg verdichtet den Schrecken, macht ihn zu einer Silberkugel, die den Schmerz transportieren soll. Sie, die Dichterin, sieht das Grauen des Krieges fern, wie wir alle, aber sieht es doch so nah, so nach ihr greifend, dass sie in der Lage ist, durch Reduktion auszuweiten, größer zu machen:

Foto, Lyman, nach der Befreiung

Im Klassenzimmer
Fehlen die Kinder
Aber an der Wand das Klavier
Sind die Fenster
Geborsten aus den Angeln
Der Schutt überall
Dem Rahmen fehlt
Das Bild nur eine Grünpflanze
Hofft noch dem Licht entgegen
Stühle gibt es nicht mehr
Auch nicht Tische oder Tafel
Aber das Klavier an der Wand.
Wird einmal einer
Ein Lied der Freiheit
Darauf spielen?

Das ist der ganze Krieg. Schule, Schützengraben, Schutt und ausgebrannte Panzer, Tafel und Hausskelet. Da ist alles in dieser kurzen Beleuchtung zu sehen.

Aber auch im Kleinen, das nicht klein ist, ist ja die Grenze des Mitgeteilten nicht aus der Summe der Wörter zu erklären.

In „Einfaches Gedicht“ beschreibt sie Verlust, Wunsch, Alterung und öffnet einen breiten Interpretationskanal auch zur Frage, ob denn die überheißen, trockenen Augustmonate heute nicht verbrennen, wo sie früher die Früchte für der Ernte großgemacht haben:

Manchmal wünsch’ ich
Der Sommer wäre
Einfach nur wie früher
War ein Raum des Glücks
Im Gräsermeer
Unter blauem Himmel und
Endlos
Manchmal denke ich
Dann wäre es
Schön
Noch einmal
Augustkind zu sein

Ich bin mir sicher, dass Patricia Falkenburg eine wahrgenommene, vielleicht auf andere wirkende Lyrikerin sind wird. Das deutschen PEN-Zentrum, in das man nach wie vor zugewählt werden muss, hat sie auf seiner Tagung in Tübingen zugewählt. Welcher Ort würde besser passen?