Schon vor einiger Zeit ist im, ich schreibe es immer wieder: verdienstvollen Verbrecher-Verlag von Chaim Noll der Gedichtband Kolibri und Kampfflugzeug erschienen.
Gedichte sind auf dem Marktplatz der unerträglichen Eitelkeiten, also auf dem Literaturmarkt nicht wohlgelitten. Das ist schade. Vor einigen wenigen Jahren lag der durchschnittliche Verkauf eines Lyrikbandes bei unter 400 Exemplaren, inklusive aller Heines, Goethes, Schillers und ihrer berühmten Kumpaninnen und Kumpanen. Das ist nicht viel; und exkludiert man die Klassiker und Superstars, wird der reale Verkauf wohl unter 200 Exemplaren liegen. Meine enthusiastische Rezension dient nicht nur, wenn auch in erster Linie, den Erfolg des Buches zu befördern, sondern auch der Lyrik im Allgemeinen einen Dienst zu erweisen. Wenn ich Sie also überreden kann, sich den Chaim Noll holen, kann ich Sie vielleicht auch animieren noch ein zweites und, vielleicht sogar das, ein drittes Gedichtsbuch zu erwerben. Das wäre schön, selbst wenn die anderen beiden gar nicht von mir wären.
Geschrieben hat Chaim Noll seine herausragenden, ganz ohne Frage zur besten deutschsprachigen Lyrik gehörenden Gedichte verschiedenen Orts. Und obwohl man selbstverständlich in jedem ein jedes erkennt, man also einen ausgeprägten Stil vorfindet, so aggregiert jedes Poem doch mit seinem Ereignishorizont und schafft es zu einem eigenständigen Werk zu werden. Zu einer verdichteten Welt. Und die Verdichtung, also die Reduktion des Wortes zu einem weiten Raum durch die Reduzierung der Wörter der Beschreibung, das beherrscht Chaim Noll auf leichte und vollkommene Weise. Leicht klingt auch die Sprache, ja, sie tanzt durch die Bedeutungen, schwebt, bleibt dabei aber immer schwer genug um auszutarieren, hält die Waage. Nichts ist übers Maß hinaus überzeichnet, nichts wird zu Kitsch.
Die Gedichte Nolls ähneln Feuerstellen. Nicht nur, dass sie dem Lyrikliebhaber das Herz wärmt, sie leuchtet ihm auch jeweils einen blauen Planeten aus. Berlin, Tel Aviv, Jerusalem, die Negev, sie sind sowohl in den Geschichten fundamental, als auch insofern nebensächlich, als die konkrete Schilderung nie den wirklichen, den wirkenden Inhalt darstellt. Chaim Nolls Lyrik ist auf Hegelsche Weise konkret: sie bricht den Betrachtungsgegenstand oder den Betrachtungsmoment auf das jeweils eigentliche herab.
Aber man hat hier keine abstrakte Lyrik, kein akademisches Herumgedichte um des Herumdichtens willen. Deshalb sind Nolls Gedichte bar jeder Belehrung, wie sie auch ohne Manierismen auskommen. Es sind Stücke, die Sie am Strand lesen können, in der U-Bahn oder im heimischen Ikea-Sessel. Und sie werden einen anderen Strand sehen, in einer anderen U-Bahn und in einem anderem Sessel sitzen. Alles wird angereichert sein. So wie es Ihnen nach der Lektüre von Heine geht oder nach Gedichten von Maleko, geht es Ihnen auch nach der Lektüre von Chaim Noll.
Bomben lügen nicht
Was wir
Frieden nennen
ist längst Krieg
Auf einem verzuckerten Brot
das wir essen
liegt der Staub
von verwüsteten Städten
Unser Blick
durch polierte Scheiben
erfasst
um zu sehen
zu viel
Bomben lügen nicht
reden offen
gehen gradewegs
aufs Ziel
Meitar, 2012
Dieses Gedicht aus Israel, Meitar ist eine kleine Stadt im Süden des Landes, ist, wie viele andere, die sich mit der Lage dort, also dem fetten Krieg, der durchs Land kriecht seit Jahr und Tag, auf die Quantenebene von Krieg verdichtet. Die umfassende Dialektik zwischen allem und jedem wird in knappen Zeilen zu einem unbegrenzten Erkenntnisraum.
Das Buch selbst ist handwerklich ganz wunderbar gestaltet, mit Lese- und Kapitalband ausgestattet, und auch bei der Papierwahl und dem Umschlag hat sich der Verlag Mühe gegeben. Nicht nur das Lesen der Gedichte macht Spaß, auch die Haptik des Buches stimmt.
Es gibt also kein Kaufhindernis. Das Ding ist in jeder Hinsicht gelungen. Bitte kaufen Sie sich das Buch (und weitere Lyrikbände dazu) in ihrem lokalen Buchhandel, wenn es irgend möglich ist. Vermeiden Sie Versandhändler – außer unseren Freunden von Che und Chandler.
mit 22 Kaltnadelradierungen von Sabine Kahane und einem Nachwort von Jakob Hessing