Ein Schuss, der mehr war als ein Mord.
Benno Ohnesorg, Karl-Heinz Kurras und das vergessene Vorspiel zur Radikalisierung
Wer über die RAF spricht, darf über Benno Ohnesorg nicht schweigen. Denn lange bevor sich in den Kellern von Eichenkamp und den Wohnungen in Frankfurt die Gruppen formierten, die später zur „Stadtguerilla“ werden sollten, fiel ein Schuss. Ein einzelner Schuss. In den Hinterkopf eines jungen Mannes, der unbewaffnet war, auf der Flucht, umringt von Staatsmacht.
Es war der 2. Juni 1967. In West-Berlin demonstrierten Studierende gegen den Besuch des Schahs von Persien – eines Diktators, mit dem die Bundesrepublik wirtschaftlich eng verbandelt war. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen. Inmitten der eskalierenden Gewalt feuerte ein Polizist, Karl-Heinz Kurras, seine Dienstwaffe ab. Der Schuss traf Benno Ohnesorg tödlich. Der Täter wurde freigesprochen. Ein junger Mann war tot – und mit ihm das Vertrauen vieler in den Rechtsstaat.
Dieser Moment markiert eine Zäsur. Die linke Protestbewegung in der Bundesrepublik war bis dahin geprägt von Aufbruch, Idealismus, einem politischen Humanismus. Doch die Kugel aus der Dienstpistole Kurras’ machte aus Zweifel Wut, aus Wut Widerstand – und aus Widerstand bei manchen: Gewalt. Ohne Ohnesorg kein 2. Juni, keine spätere RAF in dieser Form. Der Mord wurde – ob gewollt oder nicht – zum Fanal.
Und dann, Jahrzehnte später, die Enthüllung: Karl-Heinz Kurras war inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Mitglied der SED. Der Mann, der einen unbewaffneten Demonstranten erschoss und in Uniform den westdeutschen Staat repräsentierte, war zugleich Agent eines totalitären Systems im Osten. Der Doppelsinn dieser Biografie ist kaum zu fassen.
Hat Kurras im Auftrag gehandelt? Gab es eine gezielte Operation, die Eskalation durch staatliche Gewalt in der Bundesrepublik provozieren sollte? Es gibt bislang keine Beweise. Keine Akten, die einen direkten Befehl belegen. Und doch bleibt die Konstellation verstörend: Ein DDR-Agent erschießt einen westdeutschen Studenten – und entfacht damit einen Flächenbrand der Radikalisierung. Selbst wenn es kein Plan war: Die Wirkung war revolutionär, im negativen Sinn.
Diese Episode wird in der gängigen RAF-Erzählung oft nur am Rande gestreift. Sie stört das Narrativ der rein westdeutschen Entwicklung. Doch vielleicht ist es gerade dieser Moment – der Schuss auf Ohnesorg –, der uns zwingt, die Geschichte nicht nur in Schwarz und Weiß zu erzählen. Sondern in all ihren Grautönen: zwischen Macht und Ohnmacht, Repression und Aufbegehren, Staat und Subversion.
Ein einziger Schuss – und ein tiefer Riss durch die Geschichte der Bundesrepublik.