Giorgos Seferis’ großer Lyrikzyklus ›Logbücher I – III‹
von Peter H. Gogolin
Mein Leben steht zur Verfügung;
keiner will es haben.«
Seferis: Tagebücher, Mai 1937
Ende 1939, als Henry Miller nach fünf Reisemonaten in Griechenland, die er als die bedeutendste geistige Erfahrung seines Lebens bezeichnete, mit dem Schiff nach New York zurückreiste, vertraute er sein Reisetagebuch dem zum Freund gewordenen Dichter und Diplomaten Giorgos Seferis an und widmete ihm das handschriftlich Manuskript mit den Worten: »Kleine Gedanken von unterwegs über Griechenland, die Griechen und andere Dinge. Für seine höchst einfühlsame Majestät, König Giorgos Seferis von Smyrna. Sein gehorsamster Diener, Henry Miller«*
Veröffentlich wurde dieses Tagebuch unter dem Titel »First Impressions of Greece« erstmals 1973, da war Giorgos Seferis bereits seit zwei Jahren tot. 1963 hatte er zwar die ›Krone‹ des Literaturnobelpreises erhalten, doch Smyrna sollte für immer nur das verlorene ›Königreich‹ seiner Kindheit bleiben.
Smyrna heißt seit der ›Kleinasiatischen Katastrophe‹ im September 1922 – sprich seit den Massakern an der christlich armenischen und griechischen Bevölkerung und dem Niederbrennen ihrer Stadtteile durch kemalistische Türken – Izmir. Will man sich einen zumindest minimalen Eindruck von den damaligen Ereignissen machen, so lese man die Kürzestgeschichte (wirklich nur anderthalb Seiten!) »Auf dem Quai in Smyrna« von Ernest Hemingway, der als Auslandskorrespondent für den Toronto Star vor Ort war. Der damalige britische Kolonialminister Winston Churchill nannte die Zerstörung Smyrnas eine »Höllenorgie«, die »in der Geschichte der Menschheitsverbrechen kaum Parallelen kennt.«
Seferis hatte dank der Umsicht des Vaters die Stadt mit der Familie schon mit Beginn des 1. Weltkrieges verlassen. »Ich war vierzehn im August 14, als wir Smyrna verließen. Wie es sich anfühlt, Untertan zu sein, war mir zutiefst vertraut.«, schreibt er 1941 in sein Tagebuch. Da befindet er sich, zum zweiten Mal vertrieben, längst im südafrikanischen Pretoria, als Beamter der griechischen Exilregierung.
Es ist eine Ironie der Freundschaft zwischen Henry Miller und Giorgos Seferis, dass Miller, als er nach Griechenland kam, erstmals »das seltsame Gefühl, in der Heimat zu sein« empfand, während Seferis zeit seines Lebens ein Vertriebener blieb, dessen Verlangen nach Rückkehr sich nur in der Literatur erfüllte.
Der Berliner Elfenbein Verlag hat nun dankenswerter Weise in seiner ›Kleinen Griechischen Bibliothek‹, die so klein längst nicht mehr ist, mit Giorgos Seferis’ Logbüchern ein entscheidendes Wegstück, das der Dichter in dürftiger Zeit zurücklegen musste, für den Leser zugänglich gemacht. Das ist umso wichtiger, da die drei Logbücher, die die kommentierte Neuübersetzung von Andrea Schellinger versammelt, bisher nicht vollständig in deutscher Sprache verfügbar waren.
Logbücher schreibt man, wenn sich das Schiff des Lebens auf unsicherem, schwankenden Kurs bewegt, Schiffbruch und Untergang zu verzeichnen sind.
Dabei hatte Seferis’ Vater alles darangesetzt, seinem Sohn eine Laufbahn im diplomatischen Dienst zu sichern. Das verschaffte ihm einerseits eine aussichtsreiche Laufbahn, führte aber auch dazu, dass er seine Doppelexistenz als Diplomat und Dichter lebenslang als quälend erlebte. »Meine einzige Neigung ist’s, Gedichte zu machen, geduldig, beharrlich, monate- und jahrelang am Werk, wie ein … arbeitssüchtiger Handwerker. Die äußere Unterwerfung (unter den diplomatischen Dienst, PHG) wird mich lebenslang verletzen und in Mauern einschließen.«, notiert er im Frühjahr 1927. Da hat er gerade die Aufnahmeprüfung des Außenministeriums bestanden.
Wie ein hochempfindlicher Seismograf verzeichnet Seferis fortan selbst die erst bevorstehenden Katastrophen so beklemmend präzise, dass es schmerzt. Das im Februar 1939 geschriebene Gedicht DER LETZTE TAG beginnt so:
Der Tag war wolkig. Niemand beschloss etwas
es wehte eine leichte Brise. »Nicht aus Nordost, südöstlich«, hieß es.
Ranke Zypressen in den Hang gebohrt und grau
das Meer, mit Lachen aus Licht weiter draußen.
Als es zu nieseln anfing, präsentierten Soldaten das Gewehr.
»Nicht aus Nordost, südöstlich«, nur dieser Entschluss wurde laut.
Doch wussten wir, beim nächsten Tagesanbruch wäre nichts mehr
unser Eigen, nicht die Frau, die neben uns tief schlief
noch die Erinnerung, dass wir einst Männer waren,
nichts mehr beim nächsten Tagesanbruch.
…
Ganz unverhofft. So viele Jahre sind vergangen. Wie sterben wir nur?
Selbst ein Gedicht wie DAS PAPPELBLATT, das wie DER LETZTE TAG aus demLOGBUCH I stammt, ist nicht mal auf den ersten Blick ein Naturgedicht.
DAS PAPPELBLATT
Es zitterte so sehr, dass der Wind es forttrug
es zitterte so sehr – wie sollte der Wind es nicht forttragen
weit weg
ein Meer
weit weg
eine Insel unter der Sonne
die Hände ans Ruder geklammert
am Sterben, als der Hafen in Sicht kam
und die Augen geschlossen
in Seeanemonen.
Es zitterte so sehr
ich wollte es so sehr
in der Zisterne bei den Eukalyptusbäumen
im Frühling und im Herbst
in allen Wäldern nackt
mein Gott ich wollte es.
Dass das Ich in diesen Versen mit seiner Klage ohne die kleinste Änderung in unser 21. Jahrhundert passt, hätte Giorgos Seferis gewiss nicht überrascht. Er wusste nur zu gut, um die Beschaffenheit des menschlichen Lebens.
Leicht verschleißt sich der Mensch in den Kriegen;
der Mensch ist weich, ein Bündel Gras;
heißt es in dem Gedicht LETZTER HALT, dem Schlussgedicht aus LOGBUCH II, das nur als Privatdruck in Alexandria erscheinen konnte. Seferis datiert dieses Schlussgedicht mit Cava dei Tirreni, 5. Oktober 1944. Er befindet sich in Süditalien, als er dieses Gedicht abschließt. Cava dei Tirreni war der letzte Sitz der griechischen Exilregierung, wohin Seferis auf einem Schiff mit griechischen Exilanten von Alexandria aus gelangt war, um den Abzug der deutschen Streitkräfte aus Athen und Griechenland abzuwarten.
Als wolle er sich entschuldigen, heißt es in LETZTER HALT:
Und wenn ich zu dir in Märchen und Gleichnissen spreche
dann deshalb, weil’s Ohr dafür offener, das Grauen
kein Gegenstand für Gespräche ist, denn es lebt,
denn es spricht nicht und rückt voran;
Den Tag hindurch tropft, im Schlaf tropft
die Qual erinnerten Leids.
Seferis Logbücher sind mitunter keine leichte Kost, denn hier schreibt jemand, der sein Leben wirklich gelebt und durchlitten hat. Da ist nichts zu finden, vom tiefen Schlaf des heutigen Konsummenschen. Das wird vor allem der Leser bemerken, der an die Angebote unserer gegenwärtigen literarischen Supermärkte adaptiert ist, überfüllt mit gut verkäuflichen Sekundärprodukten. Aber wer sich jemals, auch nur für eine Minute gefragt hat, ob echtes Leben noch möglich sei, der wird bei der Lektüre von Seferis’ Versen etwas erleben, das nur wirkliche Literatur zu erreichen vermag. Denn Seferis lesend wird der Realitätssinn endlich wieder geschärft, die reale Erfahrung kehrt zurück, das Sehen wird frisch, der Stein wird wieder steinig, der Schmerz schmerzt tatsächlich, Hoffnung und Sehnsucht können verzehrend werden.
Gewiss, Seferis gilt heute als Erneuerer der griechischen Lyrik. Und den Nobelpreis hat er, wie ich oben schrieb, ebenfalls erhalten, wenige Jahre vor seinem Tod. Aber das ist eigentlich nur Literaturgeschichte.
Lesen Sie ihn nicht deshalb. Lesen Sie die Logbücher Seferis’ Ihrer eigenen Erfahrung wegen.
Manchmal denke ich, dass meine Notizen hier wie Bilder sind, die sich Häftlinge oder Seeleute in die Haut stechen, schrieb er. Sicher, das ist eine andere Art von Tattoo, als die modisch beliebten Arschgeweihe
ahnungsloser Kids. Trotzdem, ich rate Ihnen, holen Sie sich Ihre Tätowierung, lesen Sie Giorgos Seferis’ Logbücher.
Verlag und Übersetzerin haben dem wunderbar gestalteten Band einen umfangreichen Anhang beigegeben. Mit Anmerkungen, die sich wahrhaftig zu lesen lohnen, dazu ein aufschlussreiches Literaturverzeichnis und, zwar zuletzt genannt, doch auch durchaus als erstes lesbar, ein Nachwort, das nicht nur meisterhaft Seferis’ Werk reflektiert, sondern auch einen Gang durch Europas dunkle Geschichte im 20. Jahrhundert bereithält.
Zwar schrieb Giorgos Seferis selbst: »Wer verdenkt uns den Entschluss zu vergessen.« Aber wir sollten ihn lesen, um uns zu erinnern.
Vielleicht zum ersten Mal.
- Übersetzung des Widmungstextes von Henry Miller: PHG