Vor gut zwei Jahren habe ich den herausragenden, wenn auch viel zu schmalen, Gedichtband „Vor dem großen Krieg“ von Michael Mäde rezensiert. Ich tat dies, und es gibt keinen Grund sich dafür zu entschuldigen, enthusiastisch. Die Gedichte allesamt hatten diese Leidenschaftlichkeit verdient.

Nun ist, wiederum im verdienstvollen Verlag von Wiljo Heinen, das Büchlein „Foto ohne Retusche“ herausgekommen. Michael Mäde hat damit das Kunststück vollbracht die hohe lyrische Qualität des vorangegangenen Buches noch zu übertreffen. Waren die Gedichte in „Vor dem großen Krieg“ ‚Verdichtung und Abgrund‘, wie ich damals schrieb, so schafft Mäde nunmehr lauter Welten, abgeschlossen und doch streng, stark und unlösbar mit der Realität verbunden. Wortgewaltig in einer zurückgenommenen, reduzierten, punktgenauen Sprache.

Michael MädeMädes Gedichte kann man im Bereich des phantastischen Realismus ebenso verorten, wie in der neuen Sachlichkeit. Sie sind beides, vielleicht auch sie in der Form neo-expressionistisch. Stets sind sie Schilderungen ganzer historischer Stränge, ganzer Empfindungswelten, ganzer Leben. Und es ist dieses „ganz“ nicht als Übertreibung gemeint, sondern wortwörtlich. Wie selten jemand schafft Michael Mäde es die Wirklichkeit als Ausschnitt, als solitäres Ereignis, als Resultat von Leben, zu behandeln. Die Verdichtung ist dabei vollkommen, ja fast aggressiv, auf das absolut höchste Maß getrieben und wird doch durch diese Abstraktion zu etwas unerhört Konkretem.

Das was sowohl Mäde, als auch dem Verlag anzukreiden ist, ist neuerlich die geringe Anzahl dieser Gedichte. Wie viel mehr bräuchten wir von ihnen, in dieser fallenden Zeit. Denn ist Mädes Dichtung politisch. Im besten Sinne dient sie. Das heißt sie ist fern von jeder dichterischen Werbegrafik, fern von schlechtem Agitprop und mutwillig Zerwolltem. Ihr Politischsein hat viel mit Polis zu tun, also mit dem Agitieren der Vielen im Verhältnis zu Einzelnen. Das mag einer der Gründe sein, weshalb Mäde mir so nah ist. Denn da trifft sich sicher meine Sicht auf die Welt mit der seinen. Diese stets unterschwellige Trauer über die Prozesse der Geschichte, die sich auf das Individuum legen wie Mehltau und die Prozesse, die eben dieses Individuum aggregiert und die sich in dialektischem Verhältnis auf das Individuum selbst und die Gesellschaft, ja den Planeten legen. Diese Relationen, diese Dialektik, der niemand entgehen kann, schneidet Michael Mäde aus dem wegen seiner Größe nicht erkennbaren Ganzen mit dem Scheinwerfer der Lyrik.

Mäde verlässt sich dabei nicht auf jene Verdichtung, die das lyrische Ich als Werkzeug benötigt. Seine Gedichte entstehen gefühlt quasi aus sich heraus, sind, weil sie sind, nicht, weil sie erzählt werden. Sie bestehen als formschöne, mitunter grausame, mitunter scharfzähnige Geschöpfe, die sich an die Leser schmiegen oder sich in ihnen verbeißen.

Wenn Sie Lyrik mögen, wenn Sie Gedichte lesen wollen, die Ihre Zeit nicht totschlagen, sondern sie und Sie bereichern, dann kaufen Sie sich dieses kleine, schöne Büchlein.

Foto ohne Retusche

Nebelschatten überm Schädel
Wegzehrung schon aufgebraucht
in den Falten nistet Sorge
in den Augen schon Angst

Risse

Die ersten Schläge
wegen eines Abziehbildes
verbitterte Schwingen
mit dem Lineal.
„Kommisau“ heult es
unterdrückt
aus dicken Lippen.
Am Abend der Blick
des Vater, traurig
sengt auf der Haut.

Michael Mäde, Foto ohne Retusche (Ein Bericht), Verlag Wiljo Heinen, ISBN 978-3-955514-033-5, € 7,50