Persönlicher Rückblick auf das maoistische „1968“
Anläßlich des 50. Jahrestages von „1968“ erscheint eine Vielzahl von Publikationen – seien es wissenschaftliche Untersuchungen oder seien es persönliche Erinnerungen von Zeitzeug*innen. Zu den Publikationen der Erinnerungen zählt auch „Der gläserne Sarg“ von Willi Jasper, einem ehemaligen Mitglied der maoistischen KPD/AO. Der Titel bezieht sich auf den gläsernen Sarg, in dem die einbalsamierte Leiche des „großen Vorsitzenden“ Mao Tse-tung in der chinesischen Hauptstadt aufbewahrt wird. „Als ich im Oktober 1977 mit einer Delegation der maoistischen ‚KPD‘ am Glassarg des verstorbenen ‚Großen Vorsitzenden‘ in Peking einen Kranz niederlegte, fühlte ich mich zwar wie ein tapferer Gesell – dachte aber nicht an Erlösung. Dabei hätten meine ‚Genossen‘ und ich ihrer dringend bedurft, denn wir glaubten an das Propagandamärchen von Maos ‚Kulturrevolution‘.“ (7). Die Worte leiten bereits ein, worum es dem Autor geht – um eine Art Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, die eng mit der maoistischen Parteienszene in Deutschland verwoben war.
Jasper (* 1945), der die Professur für jüdische Studien an der Universität Potsdam inne hatte, hat sich bereits 1983 in dem Band „Partei kaputt. Das Scheitern der KPD und die Krise der Linken“ (Verlag Olle & Wolter) kritisch mit der Geschichte der KPD/AO auseinandergesetzt. Er, der damals an der FU Berlin studierte und zum Gründungskreis der Partei gehörte, erzählt von Genoss*innen und ihren Marotten im Plauderton („Als es zum Beispiel Karl-Heinz H. Als gelernter Elektriker bis ins Politbüro der ‚KPD‘ geschafft hatte, wurde die evangelische Pastorentochter Antje Vollmer aus der ‚Liga gegen Imperalismus‘ auf diesen interessanten ‚Proletarier‘ aufmerksam.“, S. 31); mal thematisiert er historische Ereignisse wie den 2. Juni 1967 und die Tötung von Benno Ohnesorg oder erläutert den Einfluß der Begegnung mir Rudi Dutschke auf den amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse.
Der Fokus ist dabei auf das Spektrum Maoismus gerichtet – und bildet somit auch nur einen – wenn auch nicht unerheblichen – Teil der Bewegung ab. Es ist nicht unbedingt der spannendste Teil jener Geschichte. Der Maoismus hat seine Bedeutung sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, wo sich nur noch vereinzelte Gruppen wie die MLPD positiv auf ihn berufen, eingebüßt.
Bei der Lektüre fragt man sich aber, wer der Adressat jenes Buches sein soll. Der lockere Plauderton über alte Genossen wie z.B. den ehemaligen taz-Redakteur Christian Semmler, der noch einer der bekannteren ist, spricht vielleicht den kleinen Kreis von ehemaligen Aktivist*innen an, für andere sagen weder die Namen der Verlage noch der Aktivist*innen – abgesehen von Antje Vollmer, Fritz Teufel und Hans-Jürgen Krahl auf Anhieb etwas.
Braucht aber jener Kreis an Leser*innen, der sich dafür interessiert oder ähnliche Erfahrungen gemacht hat, wirklich eine Nachhilfesitzung über den „eindimensionalen Menschen“ nach Herbert Marcuse? Und auch die regelmäßige Referenznahme auf die konservative FAZ bleibt undurchsichtig. Insgesamt hinterläßt der Erinnerungsband einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits bietet er sehr gute Einblicke in den damaligen Diskurs einer Strömung, andererseits findet der Autor aber nicht immer das richtige Maß an Nähe und Distanz zur Thematik, die er für die Aufarbeitung benötigt.
Maurice Schuhmann