Das Mädchen auf dem Hochseil
Das Mädchen auf dem Hochseil war ein paar Jahre älter als ich. Das Mädchen auf dem Hochseil trug ein Trikot, ich trug kurze Hosen und einen Pulli. Dem Mädchen half einer, den ich für ihren Vater hielt, auf das Hochseil. Ich stand, denn Stühle oder Bänke gab es nicht, neben meinem Großvater. Das Hochseil war zwischen zwei Gerüsten gespannt.
Nichts schützte den kleinen Zirkus vor dem Wetter. Er hatte kein Zelt. Ich kann mich an nichts anderes erinnern, als an das Mädchen im Trikot, welche über das Seil tanzte, ja, tanzte. Ich weiß nicht mehr, ob es Clowns gab oder Tiere. Ich vermag mir auch nicht wachzurufen, wie lang’ ihre Vorstellung gedauert haben wird. Das Mädchen, ihr Tanz auf dem Seil, das hat so viel Gewicht in meiner Erinnerung, dass es gar keine Zeit hat.
Der kleine Zirkus gab einige Tage lang seine Vorstellungen am Ende der Straße, in der ich mit meiner Mutter wohnte, dort, wo die Straße auf einem Platz, der damals gar keinen Namen trug, endete. Der Zirkus hatte sich eine leergebombte Ecke ausgesucht, eine, die noch Trümmer trug. Wir spielten dort sonst. Es gab, 1965 mag das gewesen sein, noch viele Trümmergrundstücke in Hamburg.
Das Mädchen auf dem Hochseil lächelte mir zu. Nur mir. Ich weiß es genau! Ich verliebte mich in sie. Ich liebe sie noch immer. Nie sah ich sie wieder, niemals kam der kleine Zirkus zurück. Aber ich habe das Mädchen auf dem Hochseil in mir bewahrt, wie einen Schatz, nein, wie den ersten Diamanten aus der Schatzkiste, die das Leben mir schenkte.