Über das Elend des Individuums
Mit etwas Verspätung gegenüber dem sozialwissenschaftlichen Diskurs erlebt auch die Auseinandersetzung mit Individualität und Individualismus im anarchistischen Lager eine Renaissance. So hatte Gabriel Kuhn bereits 2007 mit seiner Arbeit „Jenseits von Staat und Individuum. Individualität und autonome Politik“ das Thema wieder auf die Agenda gesetzt. Nun zieht Hans Jürgen Degen mit dem Pamphlet „Das Paradies ist offen.“ Über das Elend des Individuums nach. Er verteidigt und proklamiert ein anarchistisches Konzept von Individualität, was sowohl von den Referenzen als auch der allgemeinen Stoßrichtung das liberale Erbe des Anarchismus ins Zentrum rückt.
Dabei sind die von ihm vertretenen Thesen nicht neu – sie entsprechen dem klassischen, anarchistischen Kanon. Er proklamiert die freie Entfaltung der Individualität – einhergehend mit Selbstverantwort und Solidarität, polemisiert gegen den mißverstandenen Individualismus und die Pseudoindividualität und pocht auf die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, um dem freien Individuum auch einen adäquaten Gesellschaftsrahmen zu bieten. Diese letzte Forderung ist – darüber herrscht im anarchistischen Lager Einigkeit – eine Grundbedingung für die Entfaltung des freien Individuums.
Unter diesen Aspekten betrachtet, könnte man Degens Schrift einfach ungelesen beiseite legen, aber damit würde man diesem Pamphlet nicht gerecht werden. Die Stärke des Textes besteht nicht in der Neuartigkeit seiner vertretenen Thesen, sondern in der Vehemenz und Dichte mit der er auf die Rechte des Individuums pocht und seine Stellung im anarchistischen Denken manifestiert. Er ruft seinen Lesern noch einmal deutlich ins Gedächtnis, welche Rolle das Individuum für das anarchistische Denken spielt und spielen sollte. Gerade vor dem Hintergrund, dass der individualistische Flügel momentan schwächelt, ist es wichtig, dass auch dieser Aspekt wieder aufgegriffen wird.
Ergänzt wird der Text von Degen durch ein Nachwort von Jochen Knoblauch, der noch ein paar sehr interessante Gedanken unter dem Titel „Versuch über das Individuum“ beisteuert.
Kein innovativer, aber dennoch ein wichtiger Beitrag für den aktuellen Diskurs der anarchistischen Szene.
Hans Jürgen Degen: „Das Paradies ist offen.“ Über das Elend des Individuums, Verlag Edition AV Lich 2011, 96 Seiten, ISBN: 978-3868410488.