Erotische Italienreise
In der deutschen Komödie Go Trabi Go reis ein sächselnder Deutschlehrer nach der Wende gemeinsam mit seiner Familie nach Neapel reisen – auf den Spuren von Johann Wolfgang Goethes bekannter Italienreise. Was wäre die französische Fassung dessen? Wahrscheinlich würde ein Pariser Philosophie- oder Literaturdozent, der sich in einer Sinnkrise befindet, mit einer seiner hübschen Studentinnen, die viel zu jung für ihn ist, auf den Spuren von Marquis de Sades Italienreise wandeln und sich erotischen Abenteuern hingeben…
Wie sein deutscher Zeitgenosse und der Universalgelehrte Goethe war auch Sade von Italien sehr begeistert. Er bereiste dreimal kurz hintereinander das Land, knapp zehn Jahre vor Goethe, und träumte zeitweise davon, sich nach Florenz oder Venedig ins Exil begeben zu können.
Diese Reisen waren aus unterschiedlichen Gründen für ihn von großer Bedeutung – gar schicksalhaft. Die erste (1772) unternahm er mit seiner Schwägerin Anne-Prospère de Launay, was ihm die unüberbrückbare Feindschaft seiner Schwiegermutter einbrachte und letztendlich zu seiner Inhaftierung führte. Seine zweite (1775/76) und dritte (1776/77) Reise dienten u.a. der Recherche für eine Art Italienreiseführer unter dem hochtrabenden Arbeitstitel Italienreise oder historische und philosophische Abhandlungen und Untersuchungen über die Städte….., mit dem Sade sich seinen Durchbruch als l‘home des lettres erhoffte. Dieser blieb allerdings ebenso wie seine Les cent vingt journées de Sodome ein Fragment. Er hatte während seiner Inhaftierung in Vincennes mit der Niederschrift begonnen, aber mutmasslich der Orientierung auf Les cent vingt journées de Sodome dieses Projekt wieder vernachläßigt. Seine Eindrücke vom Land und den Leuten flossen aber auch in seine Romane wie Aline et Valcour und Histoire de Juliette maßgeblich mit ein. In Juliette übernimmt er nach Angaben seiner Übersetzer Stefan Zwifel und Michael Pfister Passagen seitenweise aus jenem Reiseführer und integriert sie in jene voluminöse Geschichte.
Jenes wenig beachtete und erst im ausgehenden 20. Jahrhundert in der französischen Originalversion veröffentliche Manuskript steht im Zentrum des von Michael Pfister und Stefan Zweifel, die bereits die erste Komplettübersetzung von Justine und Juliette vorgelegt haben, herausgegeben Bandes. Im ersten Teil unternehmen die beiden Autoren eine biographische und historische Einordnung von Sades Italienreisen, wobei ihnen vor allem die italienischen Episoden aus Casanovas Lebenserinnerungen als Kontrastfolie dienen. „Diese Italienreisen von Sade und Juliette bilden das dunkle Gegenstück zu Casanovas Memoiren: Vom Kardinal Bernis bis zum Fürsten Francavilla treten dieselben Figuren auf.“ (8) Es folgen ein knapp 70seitiger Auszug aus Sades Reisebericht, in dem es u.a. um den Petersdom, die Uffizien oder „Sitten und Gebräuche in Neapel“ geht, sowie Zeichnungen von Jean-Baptiste Tierce, der Sade damals als Maler auf seiner Reise 1775 begleitete. Im letzten Drittel findet sich ein Auszug aus Juliette, indem es um Juliettes Italienreise geht. Wie auch in Aline et Valcour verschmilzt dabei die Grenze zwischen der Sade‘schen Protagonistin und Sade selber, so dass Juliette Sades Italieneindrücke referiert.
Der liebevoll gestaltete Band zeigt wiederum die Vielseitigkeit von Sade. In einem enzyklopädischen Eifer beschreibt er Kunstwerke, während bei der Betrachtung der Gebräuche und Sitten immer wieder sein Interesse für die Abgründe der menschlichen Natur durchscheint. Der Band dürfte aber auch von Interesse sein in Bezug auf ein besseres Verständnis des Topics „Reisen“ im Werk de Sades. Absolut lesenswert!
Maurice Schuhmann
Donatien Alphonse François de Sade: Erotische Italienreise. Matthes & Seitz Berlin 2020, ISBN: 978957333, 366 S; Preis: 32 €.